100. Todestag:Dieser Architekt erschuf das Elefantenhaus und herrschaftliche Villen

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Auch das Elefantenhaus im Tierpark Hellabrunn ist sein Werk. (Foto: Stephan Rumpf)

An Weihnachten 1919 starb der Architekt Emanuel von Seidl. Der Bäckersohn hinterließ zwar nicht ganz so viele berühmte Bauten wie sein Bruder Gabriel, doch er wusste sich zu inszenieren.

Von Wolfgang Görl

Emanuel von Seidl? Der hat doch das Bayerische Nationalmuseum gebaut. Nein, hat er nicht. Das war sein älterer Bruder Gabriel, und dieser Gabriel von Seidl war es auch, der etwa das Münchner Künstlerhaus, das Stachus-Rondell oder - gemeinsam mit Franz von Lenbach - die Lenbachvilla entworfen hat. Was aber hat Emanuel von Seidl, der zu Lebzeiten mindestens so berühmt war wie sein Bruder, errichtet? Um einen ersten Eindruck seiner Gestaltungskunst zu erhalten, ist es ratsam, ein Bier zu trinken, und zwar im Augustiner-Stammhaus in der Neuhauser Straße. Dazu sollte sich der Zecher in den Muschelsaal begeben, ein Kleinod, das von einer Jugendstil-Glaskuppel gekrönt ist, die wie eine riesige transparente Muschel den Raum überwölbt. Zahllose Muscheln fügen sich zu fantasievollen Ornamenten, umkränzen die zwischen Halbsäulen auf Podesten stehenden Büsten, während von den oberen Partien der wohl schon ein wenig nachgedunkelten Wände imposante Hirschköpfe auf die Gäste blicken. In seiner heiteren Verspieltheit erinnert das Muscheldekor an fürstliche Architekturen, etwa an den Grottenhof der Residenz oder den Diana-Tempel im Hofgarten - grazile Noblesse für den Bierausschank.

Vor 100 Jahren, an Weihnachten 1919, ist Emanuel von Seidl, einer der bedeutendsten Münchner Architekten der Prinzregentenzeit, gestorben. Seidls Ruf war so glänzend, dass ihn auch der Komponist Richard Strauss für würdig befand, seine Villa in Garmisch zu errichten. Generell hatten Großbürger, Industrielle und der betuchte Adel ein Faible für den Münchner Architekten, der ein besonderes Geschick entwickelte, herrschaftliche Villen und Landhäuser samt Interieur und Park schlüsselfertig zu konzipieren; auch repräsentative Herrensitze hatte er im Repertoire, wie etwa Schloss Wolfsbrunn in Sachsen, das er 1911 für den schwerreichen Bergbauunternehmer Karl Georg Wolf errichtete.

Seidl liebte es, historische Stilformen wie Barock oder Klassizismus mit modernen Elementen zu verbinden. Formen der deutschen Spätrenaissance prägen seine 1897/98 erbaute Münchner Stadtvilla am Bavariaring 10, an deren Gartentor der Name des einstigen Besitzers in schmiedeeisernen Buchstaben prangt. Wie Gabriele Schickel in der "Neuen Deutschen Biographie" der Bayerischen Akademie der Wissenschaften schreibt, hatte die Wohnung im Schatten der Paulskirche "Vorbildfunktion für seine großzügigen und prunkvollen Raumausstattungen in delikaten Farben, bei denen ein Stilgemisch aus Formen der Antike und der italienischen und französischen Spätrenaissance vorherrschte".

Emanuel Seidl wird am 22. August 1856 in München geboren. Er ist der dritte Sohn des Bäckermeisters Anton Seidl und dessen Frau Therese. Das klingt nach kleinbürgerlichen Verhältnisse, tatsächlich aber ist die Familie sehr wohlhabend und pflegt gute Kontakte zu den besten Kreisen Münchens. Die Bäckerei Seidl hat einen gewaltigen Aufschwung genommen seit 1799, dem Jahr, in dem sich Emanuels Großvater, der aus Großdingharting stammende Anton Seidl, in München niedergelassen hat. Dessen Sohn, der ebenfalls Anton hieß, übernahm 1838 die Bäckerei in der Theatinerstraße, die unter anderem Semmeln hervorbrachte, die in ganz München berühmt und begehrt waren. Auch auf der Brautschau war Anton Seidl erfolgreich, denn die Frau, die er auserwählte, war eine Tochter aus der Brauerfamilie Sedlmayr und somit gediegener Münchner Geldadel. Zudem war der Bäckermeister Seidl ein Freund der schönen Künste, in seinem Hause verkehrten Maler wie Carl Spitzweg und Moritz von Schwind oder der Erzgießer Ferdinand von Miller.

Während der älteste der Seidl-Brüder die Bäckerei übernimmt, streben Gabriel und Emanuel Seidl eine Laufbahn als Architekten an. Emanuel studiert an der Technischen Hochschule Architektur und tritt Ende der 1870er Jahre in die Inneneinrichtungsfirma "Seitz & Seidl" ein, die sein rund sieben Jahre älterer Bruder Gabriel zusammen mit dem Maler und Dekorateur Rudolf Seitz gegründet hat. Erste Erfolge feiert der junge Architekt mit seinen Entwürfen für die Deutsch-Nationale Kunstgewerbeausstellung, die 1888 in München stattfindet. In den Neunzigerjahren steigt er als Teilhaber des florierenden Baugeschäfts "Seidl & Steinbeis" ein. Überhaupt geht es steil bergauf mit seiner Karriere: 1896 erhält er den Titel eines Königlichen Professors, zehn Jahre später wird er in den Ritterstand erhoben. Der Bäckersohn Emanuel Seidl heißt fortan Emanuel von Seidl.

Auf dem Tor seines Hauses am Bavariaring steht noch heute sein Name. (Foto: Florian Peljak)

Wer Geld hat in München (oder sonstwo im In- und Ausland) und dies mit einer prächtigen Immobilie zeigen will, geht in der Regel zum Architekten Seidl. So macht es beispielsweise der Brauer Georg Theodor Pschorr, der sich von Emanuel von Seidl eine Jugendstil-Villa in der Möhlstraße errichten lässt; so macht es der Unternehmer Hugo von Maffei, dem Seidl ein Landhaus in Feldafing baut; so macht es der Chemiker Wilhelm von Miller, der die Villa "Leitenschlössl" in Garmisch-Partenkirchen in Auftrag gibt. Und so machen es auch Paul Johann Lautenbacher und seine Frau Franziska, die als Witwe eines Brauers der Sedlmayr-Dynastie jede Menge Geld in die Ehe gebracht hatte. 1904 baut Seidl im Auftrag der Lautenbachers eine großzügig dimensionierte Villa am Nikolaiplatz im damals noch ländlichen Schwabing, inclusive Kutscherwohnung, Pferdestall und ummauerten Garten.

In den 1970er Jahren wäre das Anwesen, für das sich längst der Name Seidlvilla eingebürgert hat, beinahe der Verwertungsgier von Investoren zum Opfer gefallen. Hätten nicht Bürger dagegen vehement protestiert, stünde an seiner Stelle heute wohl ein Allerweltsbau. Da die Villa mittlerweile ein jedermann zugängliches Bürgerzentrum ist, können Architekturfreunde an Ort und Stelle studieren, wie Seidl mit Jugendstil- und Renaissanceformen spielte, wie er mit Rundturm und hohem Durchfahrtstor einen Hauch von Burgatmosphäre schuf, ohne je zu übertreiben oder auf billige Effekte zu setzen.

Emanuel von Seidl weiß nicht nur Architekturdetails in Szene zu setzen, er versteht es auch, sich selbst zu inszenieren. Mit seinem auf imponierende Länge gezwirbelten Schnauzbart und dem himmelwärts gebürsteten Haar sieht er aus wie eine Mischung aus Abenteurer und Salonlöwe - und er weiß, wie man seine Gäste und potenzielle Kunden bei Laune hält: In seinem Haus am Bavariaring serviert er Leckerbissen und Champagner, Künstler, Gelehrte und Kapitalisten gehen bei ihm ein und aus. Einer seiner Gäste, der Mediziner Felix Schlagintweit, notiert: "Den Dachboden seines Münchner Hauses hatte Emanuel Seidl zu einem ungemein prachtvollen, repräsentativen Künstlerheim umgeschaffen." Es ist, schreibt Schlagintweit weiter, ein "italienisch-deutsches Märchenschloss", in dem es sich der Hausherr gut gehen lässt. "Hier oben hauste Emanuel sehr malerisch, sehr künstlerisch, ganz allein mit seinem Diener Georg. Eine Hausfrau wäre gar nicht zurechtgekommen."

Allerdings berichtet Schlagintweit auch über eine gewisse Christiane, mit der Seidl auf diskrete Weise verbunden ist. Tatsächlich heißt die Dame Maria Luberich, ist Modistin und 15 Jahre jünger als Seidl. Möglicherweise spielt Schlagintweit mit dem falschen Namen auf Christiane Vulpius an, die Geliebte Goethes, die der Dichterfürst erst nach fast 18-jähriger Bedenkzeit heiratete. Auch Seidl überlegt lange, dann aber die Überraschung: "Emanuel heiratet, und zwar seine Christiane." Da ist der Junggeselle bereits 60 Jahre alt, und er befürchtet, seine Freunde könnten Anstoß an der doch etwas unstandesgemäßen Ehe mit der Modistin nehmen. Doch zumindest Schlagintweit gratuliert herzlichst und berichtet zudem, dass nur eine einzige Familie dem Hause Seidl infolge dieser Vermählung für immer fern blieb.

Zu Seidls spektakulärsten Bauten gehört das Elefantenhaus in Hellabrunn

Ein zweites Märchendomizil schafft sich Seidl in Murnau. Er baut dort ein Landhaus, umgeben von einem Park im Stil eines englischen Landschaftsgartens mit Weihern, Badehaus, Eiskeller und herrlichen Bäumen. In seinem Buch "Mein Landhaus" schreibt er 1910: "Bald war ich glücklicher Besitzer einer kleinen Parzelle der Wiese, auf welcher ich mich niedergelassen hatte, und steckte meine Hütte ab. Hier wollte ich mein kleines Junggesellenheim aufschlagen und in aller Ruhe genießen. Die alten Eichen waren meine Freunde und diese Freundschaft wollte ich mir sichern. Andere Leute haben Kinder, ich wollte dafür Bäume. Sie kosten auch Geld und wachsen tun sie auch."

In diesem irdischen Elysium hält er Hof, illustre Gäste kommen zu Besuch und bleiben Tage, Wochen. Einmal während eines verregneten Sommers holt er das Hoftheater von München nach Murnau, wo die Schauspieler in Seidls Park den "Sommernachtstraum" aufführen, inszeniert von Max Reinhardt. Auch zwei Königinnen sind unter den Zuschauern, Elisabeth von Belgien und Marie von Neapel. Seine rauschenden Feste mehren seinen Ruf als Mann von Großzügigkeit, Lebensart und Geschmack, als einen, der jede Menge Geld hat und etwas Geistreiches damit anstellen kann. Auch den Ort selbst verschönert er. Mehr als 20 Fassaden am Murnauer Ober- und Untermarkt werden nach seinen Entwürfen farbenfroh bemalt. Dieses Dekor ist noch heute zu sehen, wohingegen sein Landhaus verschwunden ist. Man kann es kaum glauben: Die Villa wurde 1972 abgerissen - ein irrsinniger Akt, der nichts weniger bedeutet, als ein Filetstück der eigenen Kulturgeschichte zu zerstören.

Zu Seidls spektakulärsten Münchner Bauten gehört gewiss das Elefantenhaus im Tierpark Hellabrunn. Es ist im byzantinischen Stil errichtet, getreu der zeitgenössischen Orientmode, und vielleicht auch, weil sich der Architekt für ein exotisches Tier eine exotische Architektur vorstellt. Das Elefantenhaus ist heute noch zu bewundern - es als Original zu bezeichnen, wäre allerdings übertrieben. Die ammoniakhaltigen Dämpfe des Elefantenurins haben die Bausubstanz destabilisiert, die spektakuläre Kuppel drohte einzustürzen. Man hat sie weggesprengt und eine neue Kuppel errichtet, genauso schön, aber als Stahlkonstruktion.

Für den Bau des Deutschen Museums auf der damaligen Kohleninsel erhält Emanuels Bruder Gabriel von Seidl den Zuschlag. Im November 1906 erfolgt der erste Spatenstich, doch die Arbeiten kommen nur zäh voran. Gabriel von Seidl stirbt 1913, woraufhin der Bruder die architektonische Leitung übernimmt. Ein Jahr später beginnt der Erste Weltkrieg, danach stockt das Projekt erst recht. Und so erlebt auch Emanuel von Seidl die Vollendung des Museumsbaus nicht.

Gabriel von Seidl, dessen Nachruhm zweifellos größer ist als der seines Bruders, fand seine letzte Ruhestätte auf dem Alten Südlichen Friedhof - dort, wo so viele Münchner Persönlichkeiten von Rang beerdigt sind. Das Grab Emanuel von Seidls sucht man aber vergebens, und auch auf anderen Münchner Friedhöfen ist es nicht aufzuspüren. Tatsächlich muss man nach Murnau fahren, um die letzte Ruhestätte des großen Architekten zu besichtigen. Die Geschichte, wie es dazu kam, ist sonderbar. Ursprünglich war Seidl auf dem Münchner Waldfriedhof bestattet worden. Im Zweiten Weltkrieg wurde die monumentale Grabstätte erheblich beschädigt, und was davon übrig blieb, verwahrloste zusehends. Die Murnauer, deren Ehrenbürger Seidl war, ließ dies nicht ruhen. 1994 wurden die Gebeine des Baumeisters auf Kosten des Historischen Vereins Murnau an den Staffelsee überführt und auf dem Friedhof der Kirche St. Nikolaus beigesetzt. Auf dem Grabstein steht ein Goethe-Wort: "Uns gaben die Götter auf Erden Elysium."

© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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