München:Die Absurdität des Lebens

Lesezeit: 3 min

Aus dem engagierten Richter Klaus Gerst wurde ein Maler mit Blick für irrsinnige Situationen. Schon während so mancher Verhandlung hat er gekritzelt, richtig los mit seiner Kunst ging es aber mit einem Votivbild in eigener Sache

Von Renate Winkler-Schlang

Ist es absurd, wenn ein ehemaliger Richter hingebungsvoll Bilder malt? Wenn ein pensionierter Beamter bereits 32 Semester Seniorenstudium hinter sich hat? Oder ein Stadtkind von seinen wenigen Jahren auf dem Land während des Krieges so tief beeindruckt ist, dass es im späteren Leben im Urlaub Bauern besucht und deren Lebensweise und Handwerkskönnen dokumentiert, nicht nur mit Worten, sondern auch mit detailreichen, schönen Zeichnungen? Die Rede ist von Klaus Gerst, Jahrgang 1938. Der 81-Jährige spielt gern mit diesem Wort: "absurd". Gerst bezieht sich auf den französischen Schriftsteller Albert Camus, in seinen Augen "Philosoph des Absurden". Er spricht von seiner eigenen "paradoxen Vorliebe fürs Bizarre", für Widersinniges und Abstruses: "Ein kleines Irrenhaus? Oder nur leicht verwirrt", fragt der Mann ein wenig kokett. Weder noch, möchte man antworten.

"Ob Camus, Philosoph des Absurden, meine Bilder gebilligt hätte?", fragt sich Klaus Gerst. (Foto: Alessandra Schellnegger)

40 Jahre Juristerei - es wäre wohl absurd, würde das ein Leben nicht prägen. Gerst sitzt in seiner Feldmochinger Wohnung auf dem roten Sofa inmitten seiner Werke und blickt zurück. Er habe seinen Beruf geliebt, erzählt er. Nach einem Traum-Abi mit Schnitt 1,2, nach Studium und Promotion über altgriechisches Strafrecht sprach er Urteile in der Großen und Kleinen Strafkammer, der Zivilkammer, der für Handelssachen. Das schärft den Blick aufs Leben mit all seinen Facetten. Typisch vielleicht, dass er ausgerechnet von seiner vielleicht absurdesten beruflichen Situation erzählt: Monatelang heiser wegen einer Erkrankung der Stimmbänder, habe er zahlreiche Verhandlungen flüsternd mit einem Megafon bestritten.

Historische bäuerliche Gerätschaften und deren Anwendung interessieren den Juristen Klaus Gerst. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Auch in Familien - er ist verheiratet mit einer früheren Lehrerin, hat drei Söhne und vier Enkel - begegne einem natürlich Absurdes. Eine Frau etwa antworte beleidigt auf das Kompliment eines Mannes, es habe heute besonders gut geschmeckt, ob er damit etwa die gestrige Mahlzeit nachträglich kritisieren wolle. Gerst lächelt weise: Manches Missverständnis ende in Mord und Totschlag.

Gemalt habe er als junger Mensch nur im Schulunterricht, erzählt er: "Ein bisschen verrückt vielleicht. Meine Bilder sind auch nie fertig geworden." Der Lehrer habe sich aufgeregt: "Leg dich doch ins Bett, bevor du hier rummalst." Nicht gerade ermutigend. Später erkundete er die Welt, reiste mit Freunden und Kommilitonen bis nach Ägypten. Um Erinnerungen festzuhalten, war die Fotografie das Mittel der Wahl. Ewig habe er sich vor einem kleinen Laden im Westend die Füße plattgetreten und eine Plattenkamera angeschaut: "Mein Gott, wenn ich die hätte..." Irgendwann hatte er genug gespart. "Ich war ein guter Fotograf", sagt er von sich. Er habe nicht nur geknipst, sondern die Leica-Zeitschrift abonniert und die Werke bekannter Fotografen wie etwa Lionel Feininger studiert. Blick, Perspektive, Farbpsychologie, das alles hat Gerst interessiert. Er habe aber immer auch gekritzelt, sogar während der Sitzungen bei Gericht: "Das ging ganz automatisch."

Der Alltag mit seinen oft lachhaften Auswüchsen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Als seine Stimme so lange weg war, habe er, tief katholisch erzogen, mit dem lieben Gott verhandelt: "Ich male ein Votivbild, wenn ich wieder sprechen kann." Dieses Bild hängt immer noch in seiner Wohnung, es war für Klaus Gerst der Auftakt zum Malen im Erwachsenenalter. Es hat ihm Spaß gemacht. Bavarica waren damals angesagt, Gerst hatte zudem mit dem bayrischen Mundartdichter Helmut Zöpfl die Schulbank gedrückt. Er malte also bayrisch-bäuerlich, schnitzte auch in einer gegenständlich-naiven Weise, die an die Bilder des Bauernmalers Max Raffler erinnert und ins Buchheim-Museum passen würde. Alles steht oder hängt in seiner Wohnung, ziert die Regale, in denen dicht gedrängt die Bücher über bayrische Volkskunst stehen. Für ihn war dieses Interesse mehr als eine Mode. Nur kurze Zeit hatte er, als Kind evakuiert, auf dem Land verbracht, doch noch immer erinnerte er sich an den Stall, die raue Zunge des kleinen Kälbchens, das ihn ableckte. Er fürchtete, dass diese bäuerliche Welt verschwinden könnte. Also besuchte er Bauern, füllte Buch um Buch mit deren Auskünften und zeichnete sie bei der Ausübung ihrer Bräuche. "In Tirol musste man es zuerst den Bienen sagen, wenn der Bauer gestorben war."

Abgebildet: der gesellschaftliche Alltag von heute. (Foto: Alessandra Schellnegger)

So wurde die Zeichnung für ihn zur "Mutter der Malerei". Irgendwann dachte er, er könne auch mal etwas anderes versuchen, kaufte sich Pinsel und Acrylfarben, kopierte in seiner Küche oder auf dem schönen Balkon Picasso, Beckmann, Münter, wagte sich an Eigenes: "Aber nie ungegenständlich." Auch das war ihm dann nicht mehr genug: "Du kannst nicht nur drauflosmalen, du brauchst ein Motto", gab er sich zur Aufgabe. Da hatte er gerade Camus gelesen. Der ehemalige Richter beschloss, sich auf Absurdes zu konzentrieren: "darstellen, dass so vieles zerbricht in der Welt, dass so vieles schon zerbrochen ist." Pessimist aber sei er nie geworden: "Ich bin ein fröhlicher Mensch."

Kleinformatig sind seine Bilder, dicht komponiert. Da steht der Kirchturm nicht bei der Kirche, auf einem anderen strebt ein Mann nach oben, doch die Leiter ist zerbrochen. Oder es sitzt einer im Sturm, der von rechts kommt, die Flamme seiner Kerze aber weht es nach links. Aus der Zeit gefallene Männer mit Zylinder im Stau: "Sie blockieren den Fortschritt", sagt er. Sein Dirigent steht vor einem Orchester ganz ohne Musiker. Ein anderer dirigiert, während nebenan gekickt wird - für Gerst zeigt das die "Sakralisierung des Sports und Desakralisierung der Kunst".

Nicht von ungefähr finden sich viele "musikalische" Motive in seinen Bildern, denn das Multitalent Gerst hatte viele Jahre Klavierunterricht und spielte und spielt als engagierter Geiger in vielen Orchestern, darunter seit 15 Jahren im Domorchester Freising. Mit vollem Ernst. Hier tritt er immer wieder begeistert auf. Seine Bilder aber hat er noch nie ausgestellt.

© SZ vom 30.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: