Dimitrov Nalov ist wütend. Seit neun Jahren lebt der 46-jährige Bulgare in München, eine Wohnung hat er nicht. Gerade ist es ihm wieder einmal passiert, dass sein Arbeitgeber ihm keinen Lohn ausgezahlt hat. Zwei Monate hat er umsonst geschuftet. "Am Anfang hatte ich eine Vereinbarung mit einem Arbeitsvertrag, aber nach zwei Monaten habe ich gesehen, dass kein Geld auf dem Konto ist", sagt er. Geld, das er dringend bräuchte.
Zuhause in Pasardschik hat er Frau und fünf Kinder, nicht alle können zur Schule gehen, weil sie nicht genügend Geld haben. In seiner Heimat gibt es keine Arbeit, deshalb lebt er hier - auf der Straße oder im Kälteschutz der Bayernkaserne. In München bekommt er wenigstens Jobs, er wartet wie einige andere seiner Landsleute frühmorgens an der Landwehrstraße auf Arbeit. Meist hilft er auf irgendeiner Baustelle und hofft, dass er überhaupt Lohn bekommt. "Wir wollen doch hier nur unser Brot verdienen", sagt Nalov und schiebt leise einen Satz hinterher: "Wir sind doch auch Europäer wie ihr."
Etwa 12 000 Menschen aus Bulgarien leben in München, die meisten sind gut integriert und haben feste Jobs. Doch es gibt auch eine Minderheit, die hier keinen Anschluss findet, keine Wohnung, oft nur schlecht bezahlte Arbeit. Seit 2014 gilt für Rumänen und Bulgaren die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union. Viele versuchen seither in Deutschland ihr Glück, in München sind es vor allem Menschen aus Pasardschik, einer Stadt am Fuß der Rhodopen, in der viele Roma leben. Sie würden in München ebenso schlecht behandelt wie in ihrer Heimat, sagt Nalov.
Neulich, am 1. Mai, stand er wieder einmal mit Landsleuten zusammen, um zu demonstrieren. Sie trugen Schilder, auf denen steht: "München für alle" und "Schluss mit täglicher Polizeischikane". Häufig würden sie kontrolliert oder sogar von ihren Plätzen im Bahnhofsviertel weggeschickt. Nalov glaubt, dass Geflüchtete in München besser behandelt werden als er und seine Landsleute. In der großen Gruppe der Migranten in München gibt es auch Neid oder Misstrauen, gerade bei Menschen, die in ihrer Heimat ebenso von Integration und Perspektiven abgehängt sind wie in München. Das ist die Schattenseite von Migration.
Dabei gilt München als die deutsche Großstadt, in der Integration eigentlich hervorragend funktioniert. Von den derzeit 1,54 Millionen Einwohnern sind 435 000 ausländische Mitbürger, die Hälfte stammt aus der EU. Dazu kommen noch 250 000 Deutsche mit Migrationshintergrund. Colin Turner ist einer von vielen Menschen, der einen ausländischen Pass hat und trotzdem ein waschechter Münchner ist. Der 39-Jährige sitzt vor dem Café Münchner Freiheit, zieht seinen bordeauxfarbenen Ausweis aus der Tasche und grinst. "Ich bin in Deutschland geboren, aber ich bin Brite", sagt er. Seine Eltern stammen aus Essex, der Vater IT-Spezialist, die Mutter Lehrerin. In den Siebzigerjahren gab es auf der Insel nicht genug gute Jobs, also beschloss Turners Vater, nach Deutschland zu gehen. Die Familie blieb.
Es ist eine typisch münchnerische Geschichte, nur ihrer Zeit ein wenig voraus. Denn in den Sechziger- und Siebzigerjahren war die Migration nach München noch geprägt von Arbeitssuchenden aus der Türkei und Italien, viele arbeiteten auf Baustellen, bei der Bahn oder der Post. Doch das hat sich grundlegend gewandelt. Heute ziehen viele hoch qualifizierte Menschen nach München und arbeiten oftmals bei internationalen Unternehmen. Sie können sich die hohen Mieten leisten, oft wollen sie nur ein paar Jahre bleiben, aber gründen dann doch eine Familie.
Migration bestimmt auch Colin Turners Leben, beruflich wie privat. Der studierte Sozialökonom ist im Münchner Migrationsbeirat Sprecher im Ausschuss für Ausländer- und Zuwanderungsrecht, Rassismus, Diskriminierung und Flüchtlingspolitik. Im Spätsommer 2015 war er einer der ersten Münchner, die am Hauptbahnhof Tausende ankommende Flüchtlinge willkommen hießen, sie mit Lebensmitteln und Kleidung versorgten und Betten in Notunterkünften aufbauten. "Mich hat das wirklich geprägt", sagt er heute. "Man hat gesehen, wenn ein paar Leute wollen, dann funktioniert es auch." Für den wissenschaftlichen Mitarbeiter der Linken-Politikerin Nicole Gohlke ist Flüchtlingspolitik eine Grundsatzfrage: "Meine Vision ist, dass es bei den Menschenrechten keine Kompromisse gibt."
Damals, im Frühherbst 2015, war Colin Turner gerade frisch mit seinem Mann Max verheiratet, sie wollten eigentlich Flitterwochen machen. "Aber Max hat gesagt, du hast ja jetzt ein Projekt." Für die Geflüchteten verzichteten die Beiden auf eine gemeinsame Reise. Heute sieht sich das Paar auch nicht jeden Tag. Turners Mann, ein Deutscher, arbeitet seit eineinhalb Jahren in Großbritannien. Gemeinsam gefrühstückt wird dann häufig über den Internetdienst Skype. Auch wenn sich gerade bei Turner der Lebensmittelpunkt in Richtung England verschiebt - vor kurzem hat er nun die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, auch wegen des Brexit.
Um die Willkommenskultur in München bemüht sich auch Paraskevi Daki-Fleischmann. Die Leiterin der Fachdienste für Migration und Integration bei der Inneren Mission weiß aus eigener Erfahrung, "wie wichtig es ist, Minderheiten zu schützen und angstfrei kommunizieren zu können". Als Tochter einer Italienerin und eines Griechen wuchs sie auf Korfu und in Ioannina auf, lernte in der Schule Deutsch und kam als junge Frau nach München zum Jurastudium. Hier lernte sie einen Professor kennen, der ihr anbot, in Athen das europäische Erasmus-Austauschprogramm auszubauen. Als sie schließlich ihren späteren Mann kennenlernte, beschlossen sie, zunächst nach Starnberg und dann nach München zu ziehen. "München ist eine wunderbare Stadt mit viel Platz und viel Herz", sagt sie. "Das muss auch so bleiben."
Paraskevi Daki-Fleischmann, die neben ihrem griechischen Vornamen auch noch den Namen Evelina von ihrer italienischen Großmutter erhalten hat, sieht Migration als große Chance. "Wir brauchen die Mischung der Vielfalt, das Multikulturelle ist unwiderstehlich und keiner darf sich bedroht fühlen." Dafür arbeitet sie täglich mit ihrem Team, in dem auch ehemalige Geflüchtete sind. Die Zusammenarbeit mit ihnen sei ihr "eine Ehre", denn sie lerne von ihnen und ihren anderen Lebenserfahrungen ständig dazu.
Für Daki-Fleischmann ist deshalb nicht die Migration ein Problem in München, sondern, dass immer mehr Menschen sich das Leben in der Stadt nicht leisten können. Viele leben auf der Straße, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden. Gerade wegen des Wohlstands in der Stadt, aber auch der sozialen Ungleichheit in der Welt sagt sie: "Euer Luxus darf nicht unsere Armut sein." Dem wird Dimitrov Nalov zustimmen, der seit neun Jahren auf der Straße lebt.