Messestadt Riem:Das bessere Dorf

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In zwei Jahrzehnten hat sich in der Messestadt ein ganz eigener Geist entwickelt. Das Quartier ist für manchen Bewohner die goldene Mitte zwischen Stadt und Natur.

Von Anna Hoben

Ein paar Jahre ist es her, dass Hans Häuser aus der Messestadt weggezogen ist, in den Chiemgau. Er hatte ein attraktives Jobangebot, er wollte Berge und Natur, Landleben für sich und seine Familie. Es passte perfekt. Mittlerweile sieht er das ein bisschen anders. "Das Leben auf dem Land wird überschätzt", schrieb er in den Frühjahrsausgabe der Take Off! , der Stadtteilzeitung für die Messestadt Riem. Er fahre jetzt dreimal so viel mit dem Auto. Er habe viel weniger soziale Kontakte. "Und die Chance, einen Streit mit seinem Nachbarn anzufangen, scheint mir im Chiemgau dreimal höher als bei Dir." Das vertraute "Du" bezieht sich auf die Messestadt, in seinem Editorial, das eher eine Liebeserklärung ist. Hans Häuser sagt heute nicht: "Ich vermisse München." Er sagt: "Ich vermisse die Messestadt."

Häuser ist Journalist beim Bayerischen Rundfunk - und in seiner Freizeit Chefredakteur der Take Off!, das ist jetzt seine Verbindung zu seinem ehemaligen Viertel. Er sitzt zusammen mit Gerhard Endres, seinem Co-Chefredakteur, und Marion Steinhart, die das Layout für die Zeitung macht, auf einer Bank vor dem Bäcker in den Riem-Arcaden, um über das Viertel zu reden. Als er zum ersten Mal über den Willy-Brandt-Platz lief, erzählt Hans Häuser, da sei er erschrocken.

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Dass er die Messestadt vermisst, hat allerdings nicht mit dem weitläufigen Platz zu tun, auf dem sich der oder die Einzelne ganz schön verloren fühlen kann. Es hat nicht mit ihren "öden geraden Straßenzügen" zu tun. Nicht mit ihren "kranken geschwächten Bäumen" und ihren "Baugruben mit riesigen trüben Pfützen". Es hat zu tun mit dem Messestadt-Menschen. "Zu einem großen Teil interessierte, engagierte Menschen. Die spannende Projekte vorantreiben. Inspirierende Leben leben. Mitreißend erzählen können", so schreibt er in der Stadtteilzeitung. Was den Willy-Brandt-Platz angeht, da habe er irgendwann gemerkt: "So schlimm ist es nicht." Im Gegenteil. Immer freitags, wenn Markt ist und die Leute umher flanieren, sei es ein richtig netter Ort. Sechs Jahre hat er in der Messestadt gelebt. Und eigentlich hatte er gleich geahnt, dass es passen würde.

Gerhard Endres, Marion Steinhart und Hans Häuser (von links) machen die Stadtteilzeitung Take Off!. (Foto: Florian Peljak)

Davor hatte die Familie in Schwabing gewohnt, mit dem ersten Kind wollten sie dann einen Garten. Irgendwann führte die Wohnungssuche sie nach Riem. "Ich bin aus der U-Bahn gestiegen, zehn Meter gegangen und habe aufgeatmet. Da war Platz, es war ruhig und weit." Sie sind dann noch zum Riemer See spaziert, "und ich habe gemerkt, dass mich das wahnsinnig entspannt". Also schlossen sie sich einer Baugemeinschaft mit 23 Familien an, so entstand ihr Reihenhaus.

Die Take-Off! ist in der Messestadt eine Institution

Die Take Off! gibt es fast so lange, wie es die Messestadt gibt. Von Anfang an war es ein ambitioniertes Projekt, mit Schreibern, Fotografen und Layoutern, die professionell bei der Sache waren. In einer Auflage von 6000 wird die Zeitschrift im Din-A5-Format viermal im Jahr gedruckt und von Ehrenamtlichen in den Briefkästen verteilt. Sie liegt an öffentlichen Orten aus und werde auch außerhalb der Messestadt gelesen, wie die Macher berichten, also: im benachbarten Trudering. Die alteingesessene Bevölkerung dort habe es zu Beginn ja schon ganz schön schräg gefunden, dass ihnen die Messestadt vor die Nase gesetzt wurde, sagt Hans Häuser, der in Waldtrudering aufgewachsen ist. Wer weiß, was die Publikation seitdem zum Verständnis zwischen den Stadtteilen und zu ihrem Zusammenwachsen beigetragen hat - messen lässt es sich freilich nicht.

Victoria Basaran und Alexander Huber kommen gern aus Trudering zum Relaxen an den Riemer See. (Foto: Florian Peljak)

In jedem Heft stellen sie ein Schwerpunktthema in den Mittelpunkt, zuletzt waren das "Selbermachen", "Nacht in der Messestadt", und "Alles außer gewöhnlich". Es gab mal ein Heft mit Rezepten und eines mit Erste-Hand-Urlaubstipps aus verschiedenen Herkunftsländern der Messestädter. Das alles ist auch für Nicht-Messestadt-Bewohner unterhaltsam zu lesen, etwa wenn Gerhard Endres sich zum Barhopping aufmacht, das aber nach der zweiten Hotelbar mangels weiterer Lokalitäten jäh endet. Oder wenn Hans Häuser über seine große Leidenschaft schreibt, das Nachtschwimmen im Riemer See.

Die aktuelle Ausgabe steht unter dem Motto "20 Jahre Messestadt". Da wird vor allem zurückgeblickt auf die Anfänge. Unter dem Titel "Schlechte Presse für buntes Leben" erinnert sich die Redakteurin Birgit Heisig an den "legendären Messestadt-Geist der Anfangsjahre" und daran, wie man sich als Messestädter immer wieder verteidigen musste. Sie erinnert sich, wie Architekturkritiker hämisch über das "vorstädtische Mittelmaß" lästerten und das städtische Sozialreferat im Jahr 2013 vor sozialen Problemen warnte. Dagegen stellt sie ihre eigenen, ganz anderen Erfahrungen: von Improvisationslust, Hilfsbereitschaft und Offenheit, weil ja alle neu dort waren, vom recht harmonischen Zusammenleben mit Menschen aus 111 Nationen. Nicht alles sei perfekt, "aber wir arbeiten daran, uns weiterzuentwickeln. Ein "pressegefälliges Schicki-Micki-Viertel" habe man ohnehin nie sein wollen.

Ein Spaziergang von den Riem-Arcaden mit ihren stylishen skandinavischen Einrichtungs- und Nippes-Läden und ihren Cafés mit Bowls voller gesunder Zutaten, die das Hipsterherz erfreuen, zum Riemer See. Es ist ein windig-kühler Frühsommertag, ein Pärchen schlendert am Ufer entlang, zwei junge Leute sitzen auf den Stufen und hören Musik, und im Wasser bewegt sich einsam eine leuchtende Badekappe. Sie sitzt auf dem Kopf von Peter Sasahara, der irgendwann aus dem See steigt. Na, noch ein bisschen kühl? "Nein", sagt Sasahara und strahlt, "genau richtig". Er ist nicht nur Schwimmer, sondern auch Jogger, und deshalb findet er den Park "genial".

Die Messestadt präsentiere "die goldene Mitte" zwischen Stadt und Natur, sagt Häuser

In die Messestadt gezogen ist er allerdings aus einem anderen Grund. "Weil der Makler sagte, hier wohnen Menschen aus mehr als 100 Ländern. Das fand ich spannend." Er habe auch Bogenhausen im Blick gehabt, "aber das hier hat mich mehr interessiert". Jetzt wohnt der 59-Jährige mit Kroaten, Albanern, Kosovaren, Chinesen und Kurden in einem Block, genießt den Austausch über die verschiedenen Kulturen und das Essen der anderen bei Sommerfesten - und hat es bisher mitnichten bereut, einen Bogen um Bogenhausen gemacht zu haben. Gibt es denn auch irgendetwas, das ihm fehlt in seinem Stadtviertel? "Ein Gourmet-Restaurant."

Früher habe er gedacht, die Messestadt sei Niemandsland, so hatte Hans Häuser gesagt, der ehemalige Bewohner. Mittlerweile wisse er, dass es tatsächlich "die goldene Mitte" repräsentiere. Mit Natur, einer guten Stadtanbindung und der Autobahn vor der Tür. Die Messestadt Riem ist noch nicht fertig, sondern immer noch "work in progress"; es wird weiter gebaut, viel von Genossenschaften, die innovative Konzepte des Zusammenlebens umsetzen. Etwa 16 000 Menschen leben heute in dem jungen Stadtviertel. Hans Häuser hat gelernt, dass es das bessere Dorf ist. Wer weiß, vielleicht kommt er ja eines Tages zurück. Er hat Heimweh nach seinem Dorf.

20 Jahre Messestadt, das wird auch beim Promenadenfest am Samstag, 29. Juni, gefeiert - von 15 bis 22 Uhr auf der Promenade am Südrand des Viertels, vor dem Kinder- und Jugendzentrum Quax und der Helsinkischule. Zuvor gibt es schon um 11.30 Uhr in der Kulturetage in den Riem-Arcaden einen "städtebaulichen Brunch" mit Podiumsdiskussion, an der Stadtbaurätin Elisabeth Merk und ihre Vorgängerin Christiane Thalgott teilnehmen.

© SZ vom 26.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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