Nein, einfach haben es Jenny Valentines jugendliche Protagonisten wahrlich nicht: Da ist der 16-jährige Lucas, der sich seit dem Verschwinden des Vaters vor fünf Jahren mit der depressiven Mutter und zwei Geschwistern bemüht, die entstandene Lücke zu füllen: Im wortwörtlichen Sinne, denn er trägt die Kleider des Verschwundenen, Entführten oder Getöteten - das eben ist das größte, wenn auch nicht einzige Rätsel, das die Mitglieder dieser Familie umtreibt. Als der einzelgängerische Junge das Schicksal einer verstorbenen alten Dame zu recherchieren beginnt, deren Urne verloren in einer Taxizentrale herumsteht, nähert er sich mit der Antwort auf die titelgebende Frage "Wer war Violet Park?" auch der Auflösung des ein oder anderen Familiengeheimnisses.
Der hoch gelobte und in Großbritannien mit dem Guardia Children's Fiction Prize ausgezeichnete Debütroman der damals 33-jährigen englischen Autorin Jenny Valentine erschien 2007. An diesem Freitag stellt sie nun ihren neuen Roman "Durchs Feuer" in der Buchhandlung Lehmkuhl vor. Dazwischen liegen Romane wie "Kaputte Suppe", in der die 15-jährige Rowan sich um ihre kleine Schwester und um ihre depressive Mutter kümmert, nachdem ihr heiß geliebter Bruder Jack bei einem tragischen Badeunfall ums Leben kam. Oder "Das zweite Leben des Cassiel Roadnight", in dem es ebenfalls darum geht, eine Lücke mit Leben zu füllen: Hier erschwindelt sich der 16-jährige obdachlose Chad eine neue Heimat bei einer Familie, indem er sich für deren verschwundenen Sohn beziehungsweise Bruder Cassiel ausgibt. Doch sein unverhofftes Auftauchen fördert Familiengeheimnisse zutage, die nicht jeden er freuen. Dass er letztlich der verschwundene Zwillingsbruder des (toten) Cassiel ist, ist nur eines davon.
"Jeder hat seine Geheimnisse, oder nicht? Nimm irgendeine Familie, hinter den Kulissen rascheln unaussprechliche Dinge, garantiert", konstatiert bereits der Ich-Erzähler Lucas in Valentines mit lakonischem Witz und in jugendgerechter Sprache erzählten Debütroman. Und beginnt sogleich, eine entsprechende Liste zu erstellen. Die reicht von einem Vater, "der irgendein anderes Leben führt, vom dem wir null Komma nix wissen, oder tot ist, was er ebenfalls ziemlich geheim hält", über einen Opa, der aufgrund von Mumps keine Kinder zeugen konnte, also "genau genommen nicht so eng mit uns verwandt ist", bis hin zu einer Mutter, die seit einem halben Jahr einen Freund hat, "und glaubt, keiner von uns weiß es". Dass hinter dem Schein ein anderes Sein steckt, ist eine Erfahrung, die Lucas mit der Autorin teilt: "Familien haben immer Geheimnisse. Und Erwachsenwerden bedeutet, dass dir das bewusst wird, dass deine Eltern nicht nur deine Eltern sind, sondern Menschen, die etwas verbergen." Das gelte nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten. "Ich meine damit nicht eine geisterhafte oder religiöse Präsenz. Sondern eine psychologische Präsenz, mit der sie unser Bewusstsein beeinflussen, oder das System in einer Familie prägen." Von daher lohne es sich immer, herauszufinden, was mit ihnen wirklich los war.
Explosive Beziehungen deutet auch der Titel ihres neuen Buchs "Durchs Feuer" an. Das Geschehen kreist abermals um eine jugendliche Protagonistin, die 16-jährige Iris, und einen (zunächst) fehlenden Vater. Der vermögende Kunstsammler hat die damals vierjährige Iris nebst ihrer Mutter Hannah einfach vor die Tür gesetzt und von seiner Tochter nie mehr etwas wissen wollen. So zumindest sieht die Version der Wahrheit aus, die Iris über zwölf Jahre lang von ihrer schönen, aber lieb- und nahezu leblosen Mutter erzählt bekommen hat. Mit ihrem aktuellen Lebensgefährten, einem abgehalfterten Soap-Darsteller, hat sie sich in einer alkoholdurchtränkten Scheinwelt eingerichtet, die ein wenig an Tennessee Williams' "Glasmenagerie" erinnert.
Auf dieses Umfeld reagiert Iris, die weder schick noch schön sein will, mit Ablehnung - und damit, dass sie zündelt. Wenn sie sich missverstanden fühlt, wenn sie wieder einmal unglaublich sauer ist. "Mithilfe des Feuers verleiht Iris ihrer Aggression Ausdruck; gleichzeitig besitzt es für sie aber auch eine reinigende Kraft", sagt Jenny Valentine. Natürlich sei ihr Zündeln ein destruktiver Akt, mit dem sie sich gegen die Gesellschaft stelle. "Aber ungewöhnliche Charaktere interessieren mich eben besonders, auch im realen Leben", sagt die Autorin. Mit ihrem Mann und ihren 15 und 18 Jahre alten Töchtern lebt sie in dem als "Königreich der Bücher" berühmten walisischen Dorf Hay-on-Wye. Dort führt sie einen kleinen Bioladen, "der mir unauffällige Beobachtungen erlaubt ". Die sie ebenso wie einige reale Örtlichkeiten in ihre Romane einfließen lässt.
Mit ihrem neuen Buch schlägt die Autorin gleichsam einen Bogen zu ihrem Debütroman. In dem idealisiert der Ich-Erzähler seinen verschwundenen Vater, einen berühmten Journalisten. Erwachsen zu werden, bedeutet für ihn, eine Desillusionierung zu durchleben. In ihrem neuen Werk macht die Ich-Erzählerin Iris eine umgekehrte Erfahrung: Sie erwartet nichts, geht vom Schlimmsten aus, als sie nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder auf ihren (inzwischen sterbenskranken) leiblichen Vater trifft. Und sie, der bis dahin niemand beigebracht hatte, sich selbst zu lieben, erfährt, wenn auch nur für kurze Zeit, eine wertschätzende Vaterfigur. "Lucas und Iris stehen sich an zwei entgegengesetzten Polen desselben Spektrums gegenüber, beide durchlaufen einen Lernprozess", sagt Jenny Valentine. Auch wenn es in ihren Romanen viel Dunkelheit gibt, geht es doch eigentlich darum, zur Helligkeit zu gelangen: Nicht, weil ihre jungen Helden auf ein Happy-End zusteuern. Sondern weil sie an Klarheit gewinnen. Und so ihren eigenen Weg beginnen.
Durchs Feuer , Lesung, Lehmkuhl, Fr., 18. März, 18 Uhr, Leopoldstr. 45, ☎ 380 15 00