Literatur:Befreiung der Frau durch Tod des Mannes

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Tobias Roth hat in jahrelanger Arbeit die Literaturanthologie "Welt der Renaissance" zusammengetragen. Zu entdecken ist ein ungeheurer Fundus italienischer Texte in neuer Übersetzung

Von Sabine Reithmaier

Brennende Neugier und spielerisches Selbstbewusstsein kennzeichnen die Dichter der italienischen Renaissance. Sagt jedenfalls Tobias Roth, bevor er einen Schluck Kaffee trinkt und davon zu schwärmen beginnt, welch große schöpferische Energie die Beschäftigung mit der Antike in diesen Schriftstellern einst freisetzte. Aber all die Attribute, mit denen er die Autoren beschreibt, passen auch gut auf ihn. Denn ohne Neugier, Selbstbewusstsein und Energie lässt sich so ein opulentes Projekt wie die "Welt der Renaissance" nicht durchziehen. Gut ist es natürlich auch, den Berliner Galiani-Verlag im Rücken zu haben, den auch Anthologien im Folio-Format mit 640 Seiten nicht schrecken.

68 Autoren hat Roth in dem Band vereint, chronologisch geordnet, von Francesco Petrarca (1304 - 1374) bis Torquato Tasso (1544 - 1595). Jeden Autor stellt er mit einer klugen biografischen Skizze vor, zeitgenössische Porträtmedaillen geben ihnen ein Gesicht. Roth hat die Texte nicht nur aus den Quellen herausgefiltert, sondern sie auch aus dem Lateinischen oder Italienischen übersetzt; manches ist erstmals auf Deutsch zu lesen. Sehr gut zu lesen übrigens, denn der Poet Roth hat viel seines lyrischen Spieltriebs in die Übersetzungen fließen lassen.

Ihn fasziniert, wie die Renaissancekünstler auf die Antike zugehen. "Sie tun das wild und furios, auf eine nimmersatte chaotische Art und Weise, ganz anders als unsere Klassiker." Viele alte Schriften wurden in dieser Epoche in Klosterbibliotheken neu entdeckt, oft hatte von deren Existenz seit Jahrhunderten niemand mehr gewusst. "Was übernehme ich aus der Antike, was lasse ich weg, inwieweit muss ich das begründen, wie verwandle ich das Gefundene in Eigenes?" - das seien die Fragen gewesen, die sich die Autoren damals stellten, sagt Roth. "Die Eigentumsverhältnisse am Text sind noch flüssig." Dass er den Fokus ausschließlich auf Italien gerichtet hat, hält er für zwingend. Die große Rückbesinnung auf die Antike und deren Erneuerung beginne hier, von dort aus verbreitete sie sich über den Kontinent und die Welt. Zwei Erfindungen aus der Zeit tragen rasant zu Veränderungen im literarischen Leben bei: das Papier, das das viel teurere Pergament ablöst, und die Brille, die die Lebenslesezeit der Schriftsteller verlängert. "In dieser brodelnden Ursuppe entstehen die ungewöhnlichsten Sachen."

Enea Silvio Piccolomini hat den Briefroman "De duobus amantibus" 1444 geschrieben, lange bevor er 1458 als Pius II. Papst wird. Die Geschichte ist ein riesiger Erfolg. Das Titelblatt ziert die italienische Übersetzung um 1500. (Foto: Galiani)

Tatsächlich bietet das Buch einen ungeheuren Fundus an Texten: philosophische Betrachtungen, Pamphlete, feinsinnige Dialoge, Briefe, Anekdoten, "körperteilgenaue" (Roth) pornografische Verse, die sinnliche Liebeslyrik des Neapolitaners Giovanni Pontano. Oder die Kochrezepte des Cristoforos di Messisbugo. Er zählt auf, was er bei einem "häuslichen Abendessen" mit 20 Gästen auftischte. Nicht unbedingt geeignet zum schnellen Nachkochen, da allein für den ersten Gang 14 gebratene Rebhühner benötigt werden, für den dritten gar sechs panierte Pfauen. Erschütternd die Schilderung der Pest im Jahr 1348, die der Florentiner Baldassarre Bonaiuti in seiner Chronik präzise und bis ins letzte schreckliche Detail beschreibt, einschließlich der Beerdigungen in Massengräbern. "Dann kamen die nächsten darauf und wieder nur eine Schicht Erde, nur ein bisschen Erde, gerade so, wie man eine mit Käse überbackene Lasagne zubereitet."

Roth, 1985 in München geboren, arbeitet seit Jahren auf das Buch hin. Die Antike fesselte ihn schon als Schüler. "Sophokles hat mich richtig erschüttert." Der Renaissance näherte er sich über die bildende Kunst. "An Michelangelo, da Vinci, Bellini kommt doch keiner vorbei." Irgendwann begann er sich zu fragen, was wohl diese Künstler gelesen hatten. "Dann habe ich dieser Literatur hinterher studiert." Sprach- und Literaturwissenschaften sowie Kunstgeschichte in Freiburg, Europäische Literaturen in Berlin, vor allem ältere Romanistik. Da die meisten Texte, die er entdeckte, nicht oder in seinen Augen ungenügend übersetzt waren, begann er, sie ins Deutsche zu übertragen. "Das hat sich immer weiter verschärft."

An Freunde und Bekannte, die sich für seine literarischen Eskapaden interessierten, verschickte er jahrelang per E-Mail die "Berliner Renaissancemitteilungen", schuf so von 2011 bis 2017 den Grundstock der Anthologie. Manche Übersetzungen entstanden im Windschatten seiner Doktorarbeit, einer Studie über die Sonette Giovanni Pico della Mirandolas. "Je näher das Buch rückte, desto mehr habe ich in meinem krautigen Garten gejätet und überlegt, welcher Name nicht fehlen darf." Ariost zum Beispiel, den er lang nicht übersetzt hatte, trotz des berühmten Versepos "Orlando furioso" ("Der rasende Roland", 1516), das ganz Europa begeistert hatte.

Viele der im Buch versammelten Autoren sind heute nur mehr in Fachkreisen bekannt. Aber man muss nicht Romanistik studiert haben, um an dem Band seinen Spaß zu haben. Deutschland habe ja eher einen toskanophilen Blick auf die Renaissance, sagt Roth, blende gern zugunsten von Florenz die Neapolitaner und andere Unterzentren aus. Das sei verständlich, aber schade. So sei Mario Equicola, 1470 in den Abruzzen geboren, fast vergessen. Dabei schrieb er nicht nur ein Werk über die Natur der Liebe, das zwischen 1525 und 1607 vierzehn Auflagen erlebt. Sondern er gibt in seiner Abhandlung "De mulieribus" (Über die Frauen", 1501 datiert) nahezu feministische Thesen von sich. "Es ist klarer als das Licht selbst, dass Frauen aus den gleichen Elementen zusammengesetzt sind wie Männer", schreibt er. Trotzdem werde sie im Haus festgehalten, "wo sie vor Tatenlosigkeit verwelkt und ihrem Geist keine andere Beschäftigung als Nadel und Faden gestattet ist". Dass Frauen von der Gesellschaft anders behandelt werden als Männer, hält er für eine kulturelle Gewohnheit, nicht für eine natürliche Notwendigkeit oder gar gottgegeben.

Auch Schriftstellerinnen hat Roth ausgegraben, etwa die Dichterfürstin Vittoria Colonna, 1490 in der Nähe von Rom geboren, die "Petrarkismus auf höchstem Niveau" (Roth) schreibt. Die früh verwitwete Gräfin von Pescara ist so berühmt, dass ihr noch zu Lebzeiten eine bis dahin einzigartige Ehrung zuteil wird: Der Veroneser Rinaldo Corso würdigt ihre Dichtungen Anfang der 1540er-Jahre mit einem zweibändigen gelehrten Kommentar. Hochangesehen auch Veronica Gambara, die nach dem Tod ihres Mannes von Bologna aus das kleine Territorium Correggio regiert, ebenfalls dichtet und lange Briefe schreibt. Freilich: Die Freiheit der Autorinnen setzte den Tod ihrer Männer voraus, nur Witwen konnten eigenständig leben.

Die Maler dichteten übrigens auch. Michelangelo, Schöpfer der Sixtinischen Kapelle, beschreibt 1509 in einem Sonett anschaulich die Strapazen seines Berufs: "... der Bart starrt hoch, der Kopf zurückgebogen,/ die Brust so verdreht, wie Harpyien waren, / der Pinsel über mir tropft, sozusagen seh ich aus wie ein teurer bunter Boden. // Wie sich die Lenden in den Bauch hoch bohren, / wird mein Hintern unter dem Gewicht ganz platt, / vergebens blick ich nach meinem Fuß mich um.// ... und insgesamt bin ich wie ein Bogen krumm."

Die Welt der Renaissance mit Tobias Roth. Musik: Isabelle Rejall (Alt), Jacopo Sabina (Laute), 14.12., 20 Uhr, Live-Stream, Literaturhaus München

© SZ vom 11.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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