SZ-Redakteur Max Scharnigg ist in den vergangenen Monaten oft verreist, hat viele Städte im Ausland gesehen - und wurde immer unzufriedener, wenn er in seine Heimatstadt München zurückkehrte. Auf seinem Blog hat er seinem Frust über seine Geburtsstadt Luft gemacht und den schonungslosen Text "Grant. Oder: Keine Stadt, nirgends" verfasst. Die Polemik, die nicht für die Zeitung gedacht war, hat zahlreiche Reaktionen in den sozialen Medien ausgelöst und Debatten angestoßen. Wir zeigen sie nun auf SZ.de.
Weil gerade wieder ein goldiges München-Magazin nach dem anderen erscheint, muss ich auch mal was dazu sagen. Ich bin hier geboren und habe insgesamt 25 Jahre hier gelebt. Ich habe die Stadt oft genug in Texten gestreichelt und hundertmal verteidigt. Aber in den letzten 15 Monaten habe ich auch viele andere Städte gesehen. Ich war in New York, London, Berlin, Paris, Mailand, Wien, Lissabon, Porto, Reykjavik, Rom, Stockholm, Triest, Budapest, Zürich und Kopenhagen. Ich war nicht nur dort, sondern habe meistens auch eingekauft, gekocht, gegessen, getrunken, bin Rad gefahren und nachts irr rumgestolpert. Nach jeder Reise bin ich ein bisschen unglücklicher in München aufgewacht, denn jede dieser harmlosen Städte war besser.
Keine war perfekt, aber alle hatten etwas genuin Städtisches, das München nicht hat. Eine spezifische Verdichtung, etwas Lebendiges, einen historischen Pulsschlag oder auch ein modernes Drehmoment, die es hier alle nicht gibt. München ist eine Theaterkulisse auf den Schultern von sechs DAX-Konzernen. Die Schleuser hierher nennen sich Headhunter. Sie haben eine Karriere- und Schlafstadt geschaffen, in die unentwegt Menschen kommen, um Geld zu verdienen und am Wochenende wandern zu gehen. Mit dem Geld kaufen sie sich erst eine Portion Stadtstolz, dann eine bayerische Tracht, dann eines der Autos von hier und dann eine Wohnung und daneben ist eigentlich keine Zeit für irgendwas anders, höchstens mit dem Hund in den Park, weil was anderes kannst du in den Münchner Parks auch nicht machen. Das sind dunkle Reinkackparks, die nicht bespielt werden, wo es kaum Sportplätze oder Fußballkäfige gibt und selbst wenn du kicken willst, musst du dich anstellen oder hoffen, dass das Gras mal gemäht ist.
Alter Botanischer Garten, was würden andere Städte daraus machen! Hier seit Jahrzehnten ein einziges düsteres Gebüsch. Den Platz hinterm Rathaus kenne ich nur als Baustelle. Sogar die hässlichen Sitzbänke (in Wien, London und Paris stehen sie elegant und dicht nebeneinander aufgereiht wie Sesselreihen, weil es was zu sehen gibt!) sind in den Parks so selten wie die Mülleimer und auf jeder sitzt ein frisch geduschter Rentner und schaut grimmig, wer da schon wieder vorbeigeht.
Man hat zwar die Taschen voll Geld, aber die Versorgung ist allgemein miserabel. Flussufer, Aussichtshügel, Hinterhöfe, zehn Meter breite Bürgersteige - alles leere, lebenslustbefreite Zonen. In Stockholm werden sogar in kleinen Regionalzügen Zimtkringel und Kaffee verkauft, Paris ist voll mit Patissiers und Rom, ach Rom. An der Stadtisar aber läufst du ewig, bis es mal irgendwo eine trockene Breze gibt. Schon klar, dass Städte wie Menschen unterschiedliche Talente haben. Aber München ist mittlerweile wie die sentimentale Idee von einer Stadt, die alle irgendwie haben und wegen der nicht zuletzt auch nonstop diese Magazine und Lebenswert-Sonderhefte entstehen. Wenn du genau hinschaust, dann ist da aber eigentlich gar nicht mehr viel. Du darfst nix.
In München kannst du nicht einfach essen gehen
Keine Bank auf den Gehweg, keinen Stuhl auf die Grünfläche, keine Musik im Hinterhof, keinen Blumenkübel aufstellen, keine Lichterkette in die Bäume, kein Straßenflohmarkt, schon gar keinen Foodtruck. Versuch mal ein Brotzeitfahrrad für den Englischen Garten anzumelden, da gibst du auf. Es gibt keinen Ermessenspielraum, kein Augezudrücken, keinerlei Wildwuchs, keinen Platz, keine Lust. Im Kulturzentrum Gasteig gibt's im Hof so etwa sechs wacklige Stühle, auf die man sich mittags kostenfrei setzen kann. Warst du mal in Skandinavien, hast du gesehen, wie da die Kulturzentren aussehen? Die sind für echte Menschen gemacht, da sollst du hingehen, sitzen, arbeiten, essen, Leute treffen, das ist so gewollt, von der Stadt, das sieht sogar gut aus. Was in München öffentlicher oder städtischer Raum ist, ist immer der ärmste, kleinste, schäbigste gemeinsame Nenner.
In München kannst du nicht einfach essen gehen, die zwei Dutzend guten Restaurants sind alle immer reserviert, du musst Tage vorher anrufen. Und wenn du aus dem Kino oder Theater kommst, gibt's nichts mehr, weil die Köche hier um 22 Uhr flächendeckend das Kochen einstellen. In der Bierstadt München kannst du nix trinken, einfach mal schnell ein Bier, für so was musst du hier richtig eine Idee, einen Plan haben. Wenn nicht, endest du nach viel Gerenne in einer der Folklore-Schänken oder in der letzten Spelunke, wo noch ein Platz frei ist. Nirgends sind die Eck-Italiener so mies wie in der nördlichsten Stadt Italiens, die Speisekarten laminierter, die Wirte unlustiger. Ich weiß, du hast jetzt gleich ein paar Ausnahmen parat, aber wir sprechen hier von den lebenswichtigen Aufgaben einer Großstadt.
Ich will nicht eine Handvoll guter Beispiele, nicht drei gute Läden in einer Millionenstadt. Eine Stadt soll ihre Leute verdammt noch mal nach der Arbeit unterhalten, betören und sedieren. London ist auch eine fiese, verspiegelte Bürostadt, aber da rennen die Anzugmenschen um 18 Uhr zu Tausenden in die tausend Pubs und saufen sich solidarisch an, und alle kriegen irgendwo einen Tresen und niemand schaut und niemand hat reserviert. Und mittags gehen sie alle zu tausenden dampfenden Takeaway-Läden und Ständen, die so tadellos, modern, international und interessant sind, dass sie bei uns wieder zwei Monate voraus ausgebucht wären.
Hier hingegen stapeln sich die Bürogemeinschaften vor dem letzten verbliebenen Döner der Straße. Der Rest isst in der Kantine, fühlt sich workhard-playhard und geht trotzdem nach Feierabend brav heim, in eine hässliche, niedrige, kleine Isolierfensterwohnung, weil's uns die alten Häuser nun mal zerbombt hat und seitdem nur mit Kleingeist gebaut wurde. In Italien kriegst du an jeder Ecke ein Glas Prosecco, was Kleines dazu, in Wien hast du bis spät in die Nacht überall tadellose Ober, die dich akkurat mit Gulasch und Wein versorgen, egal in welchen Zustand du ankommst, in Lissabon kannst du dich den ganzen Tag in einem der winzigen Jugendstil-Kioske verköstigen und vor dem Schlafengehen noch Kirschschnaps trinken bis der Boden klebt.
Herrgott, sowas sind doch die Basics, da müsste man doch gar nicht drüber reden, schon gar nicht in so einer Speckgürtel-Wohlstandsgemeinde. Aber hier schwitzt du, wenn sich ein Gast spontan ankündigt, wenn du mit den Nachbarn mal schnell irgendwohin hocken, einen weitgereisten Interviewpartner nachmittags irgendwo schön empfangen willst oder auch nur eine Flasche Wein kaufen nach acht Uhr, da musst du googlen, gibt's diese eine Tankstelle in der Innenstadt noch? Nö.
Die U-Bahn im zehn Minuten-Takt, die S-Bahn 20 Minuten. Ab Mitternacht dann so gut wie nix mehr. Waren die Verantwortlichen dafür mal irgendwo anders? Und ich meine nicht Regensburg. Dazu jeden Tag Störung. Jeden Tag: Wegen starkem Verkehrsaufkommen... . Diese Stadt ist gleichzeitig immer zu voll und zu leer. Die mag weder Neues noch schätzt sie das Alte. Die alten Straßenbahnen werden verschrottet, andere Städte würden die zum Wahrzeichen machen, aber hey, wir haben ja schon das abgefuckte Glockenspiel.
Die letzten Villen werden umstandslos durch kastige Mehrfamilienhäuser ersetzt. Du wirst irre, wenn du nicht längst auch so betäubt wärst. In London ist die U-Bahn auch Katastrophe, klar. Aber da schreiben die Verantwortlichen wenigstens jeden Morgen mit der Hand Hinweisschilder, die originell und herzlich sind und das reicht schon, da ist ein gemeinsamer Witz in der Luft und ein Berufsstolz und du kriegst überall Kaffee und jedes zweite Auto ist sowieso ein roter Bus. München ist so humorlos wie ein Sechszylinder. Aber wenn man schon in einem sterilen Sechszylinder lebt, warum funktioniert der dann nicht mal?
Es gibt große Viertel in München, in denen bist du so dankbar, wenn wenigstens mal ein Aufback-Bäcker neu eröffnet, weil es kilometerlang sonst nichts gibt als senfgelbe Wohnblöcke aus den 70er-Jahren und Bürobauten. Da ist nix. Ich bin in Laim aufgewachsen, damals war der McDonald's an der Fürstenrieder eine Sensation. Das ist er heute immer noch. Fahr mal von der Donnersberger bis Pasing, das sind zehn Kilometer bitterster, sterilster Wohnungsbau. Da schlafen hundertausend stolze Eigentümer, aber da ist kein Leben, leere Gehsteige, höchstens ein unterbudgetierter, sicherheitsfixierter Spielplatz. Und alle vier Straßen das immergleiche Kleeblatt aus Rossmann, Lidl, Apotheke und Tengelmann, damit keiner verhungert.
Die Stadt ist reich - und miserabel
Du bist hier dankbar für jeden schäbigen Getränkemarkt, der noch nicht Kinderpsychologe ist. Dankbar für irgendein altes Firmenschild, das dich daran glauben lässt, dass es hier früher auch Menschen gab. Für jede Initiative, die ein bisschen mehr als nur das Nötigste will. Aber jeder kreative Vorstoß wird ja Stadtpolitikum, jede Zwischennutzung, jedes Stadtgartendings verstrickt sich nach kurzer Zeit in Ego-Stolz-Knatsch, denn so sind wir hier. Das Mia san Mia hier ist eigentlich ein Ich bin ich. Das bedeutet eigentlich nur Mia stehen jeder einzeln in seinem 5er im Stau und zwar jeden Tag und morgens und abends. So bled san mia.
Du verlangst ja gar nicht junge Kaffeeröster, frische Blumengeschäfte, Fischläden oder stolze Metzger, wie du sie ihn Wien und Mailand noch überall findest oder gar ein echtes Cafe an jeder Ecke, wie in Triest. Aber wenn selbst Manhattan für seine Menschen eine ganze Kette an blitzsauberen Sportplätzen einrichten kann und du da an jeder Straße einen Seven Eleven findest, der zumindest die lebenswichtigen Sachen hat und zwar immer und trotzdem freundlich, dann weißt du, München ist eigentlich keine funktionierende Stadt, sondern eher ein Übungsplatz für Hausmeister.
Klar, Berliner Verhältnisse, wo du in deiner Straße alles bekommst und die Läden und Kneipen sich so schnell austauschen wie die Mieter, das gab es hier nie. Dickicht, Gemenge, Potzblitz - das kommt auch nie mehr. Jeder Zentimeter ist gekärchert und vom Ordnungsamt abgenommen. Die zehneinhalb offen kreativ Lebenden stehen genau so unter Denkmalschutz wie die vier Verrückten und die drei Traditionsgeschäfte, die es hier noch gibt. Lies mal die täglichen Münchner Polizeimeldungen, die eine Hälfte sind Senioren, die an falsche Handwerker und Polizisten versehentlich zehntausende Euro weiterreichen und das anderen sind Unfälle, in denen die gleichen Senioren mit ihrem Range Rover in einen Mini krachen.
Nach der Oper gibt es Stau auf der Maximilianstraße
Ich will keine junge Subkultur, die ist eh überbewertet. Eine Stadt braucht keine flippige Szene, um gut zu sein. Eine Stadt braucht Kaufleute, Gastronomen, Architekten, Exzentriker, Familienbetriebe und schreiende Markthändler. Ich will Kultur, Überforderung, Reizflutung. Oder wenigstens Lebensart. Weißt du wie in Wien eine Theaterpremiere gefeiert wird? Was in Mailand so wegflaniert wird, jeden Abend? Wie in Lissabon die Lichter angehen? Wenn die Münchner Abonnenten aus der Oper kommen wird nix mehr flaniert, wohin auch, da ist zehn Minuten später nur ein Stau auf der Maximilianstraße, weil alle schnell umlandheim wollen. München ist angeblich reich. Find ich gut. Aber wie äußert sich der Reichtum eigentlich?
Die schönen alten Schulen sind alle baufällig, für Fachärzte brauchst du zwei Monate Wartezeit, die Bürgerbüros sind so abgerockt, eng und beamten-analog, das willst du keinem Dänen zeigen. Gibt's irgendwas Neues, außer zweier bildschöner Tunnels? Gibt's einen Fortschritt, eine Großzügigkeit, ein Experiment, gibt's irgendwas aus dem digitalen Zeitalter? Bist du auf irgendwas stolz, das die Stadt in den letzten zehn Jahren aus sich heraus geschaffen hat? Was zeigst du einem Gast, der in München zu Recht den Wohlstandsmotor Europas vermutet? Du zeigst ihm den SUV-Stau und die Burnout-Visagen.
Klar, das ist jetzt eine ziemlich gestreute Schrotladung in den breiten Arsch der Tante. Diese Stadt hat ihre Momente, natürlich und auch ihre Adressen. Sicher, man kann hier gut leben. Aber auch nur noch in dem Sinne, wie man in einem Rewe-Markt gut einkaufen kann. Man geht halt in die vier Bars, die drei Clubs, die zwei Theater und an den einen Fluss, wie eine halbe Million anderer Bedürftiger eben auch. Und wischt sich mit ihnen einmal im Jahr auf dem Königsplatz ein Tränchen aus dem Auge, weil der Monaco wieder so schön ist. Dann bringt man den Pfandbecher zurück und fährt mit funktionierendem Rücklicht durch die fest schlafende Stadt nach Hause. Echt, zum Verklären besteht kein Anlass.