Unterhaching:Die offene Gesellschaft und die Grenzen des Sagbaren

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Julian Nida-Rümelin spricht über sein Buch "Cancel Culture" und erklärt, warum heute ein Blick zurück auf die Zeit der Aufklärung helfen kann. (Foto: Sebastian Gabriel)

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin warnt bei einem Vortrag vor "Cancel Culture" und wirbt für Streitkultur. Das Unterdrücken von Meinungen sei eine Gefahr für die Demokratie.

Von Jennifer Bergmann, Unterhaching

Um die viel diskutierten Grenzen des Sagbaren sollte es am Dienstagabend im Kubiz in Unterhaching gehen. Julian Nida-Rümelin hat dazu mit seinem Buches "Cancel Culture - Ende der Aufklärung?" einige Thesen formuliert, die zum Semesterstart der Volkshochschule Grundlage für eine interessante Debatte bieten sollten. Schließlich hat die VHS "Diversity" als Semesterthema ausgegeben. Doch bei so manch Anwesenden geht bei dem Vortrag des Philosophen, Autoren und früheren Kulturstaatsministers während der folgenden Aussprache die Zielrichtung des Abends verloren. Die Aktualität schlägt durch. Trotz gekonnter Moderation der VHS-Geschäftsführerin Barbara Sporrer wollen viele der circa 160 Besucher Nida-Rümelins Meinung zu den Kriegen in der Ukraine und in Israel hören, sowie zum Umgang mit der AfD.

Ob sich Nida-Rümelin das so vorgestellt hat, als er anfangs davon spricht, mit seinem Buch Orientierung geben zu wollen? Jedenfalls gelingt ihm meist der Brückenschlag zurück. Er habe nicht das erste Buch dieser Art geschrieben, sagt er. Dennoch hätten ihn Bekannte gewarnt, dass er sich diesmal auf eine "hochriskante" Materie einlasse. Doch statt des erwarteten Shitstorms sei nach der Veröffentlichung Erstaunliches passiert. Nämlich nichts, erzählt Nida-Rümelin. Ist das der Beweis, dass er bei einem "der großen ideologischen Themen der Gegenwart" ins Schwarze getroffen hat?

Das könne sich jeder selbst überlegen, sagt er. Die Antwort darauf, ob es Cancel Culture gebe, jedoch nicht. Nida-Rümelin unternimmt zunächst einen Exkurs in die Philosophie, um die Begrifflichkeit zu klären. "Der Terminus ist jung, aber die Praxis ist uralt." Den Begriff gebe es in der Kommunikationswissenschaft seit 2018 in den USA, ein Jahr später auch in Europa. Aber bereits in der Antike sei Meinungsunterdrückung oder die Ausgrenzung derselben gängig gewesen. Als Beispiel nennt Nida-Rümelin die Vernichtung heidnischen Kulturgutes im Zuge der Christianisierung.

Der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister beschreibt drei Eskalationsstufen. (Foto: Sebastian Gabriel)

"Es gibt zwei Lager", erklärt der Autor. Die einen, die sagten, Cancel Culture gebe es nicht. Und die anderen, die in dem Zusammenhang von einer die Demokratie gefährdenden Entwicklung sprächen. Letztere hätten recht. Nida-Rümelin unterscheidet in seinem Buch drei Eskalationsstufen. Es beginne damit, dass eine Meinung nicht ohne Sanktion geäußert werden könne. Auf der zweiten Stufe würden die Personen, die Unliebsames gesagt hätten, vom Diskurs ausgeschlossen, unabhängig davon, wozu sie sich zu Wort melden wollten. Stufe drei sei die Vernichtung der beruflichen, sozialen oder physischen Existenz.

In den Sozialen Medien, die diese Entwicklung begünstigten, sei die Praxis vielen aus dem links-liberalen Milieu bekannt. Tatsächlich habe Cancel Culture aber nichts mit rechts oder links zu tun. Übrigens auch nichts mit kultureller Aneignung, was oft verwechselt werde. Als "extremes" Gegenbeispiel zur linken Szene nennt Nida-Rümelin das Vorgehen von Ron DeSantis in Florida, der den Bundesstaat zur "woke-freien Zone" erklärt habe. In Deutschland richte sich eine Cancel Culture von rechts gegen Transpersonen.

Ein interessanter Fall, der manchem im Saal vielleicht nicht gefällt, ist laut Nida-Rümelin die juristische Zurückweisung der Missbrauchs-Vorwürfe gegen den Rammsteinsänger Till Lindemann. Hieran lasse sich gut erklären, warum Cancel Culture, abgesehen von der Meinungsunterdrückung, demokratiegefährdend sei. Wenn der Rechtsstaat als Mittel der Befriedung nicht akzeptiert werde, komme es irgendwann zum Bürgerkrieg. Demokratie bedeute nicht, dass die Mehrheit entscheidet - das führe zu Anarchie.

Während Nida-Rümelin dafür wirbt, Menschen eine eigene politische Willensbildung zuzumuten, wollen Gäste der Veranstaltung wissen, wie sie mit der AfD umgehen sollen. Nida-Rümelin warnt, dass es die Partei nur stärke, wenn alle über den Umgang mit ihr sprächen. Es diene, historisch gesehen, keiner Eindämmung, wenn sich alle gegen rechts zusammenschließen. Eine Demokratie brauche offenen Meinungsstreit. Allerdings gebe es Grenzen - rechtsextreme Äußerungen fielen darunter.

Und wie geht man mit pro-palästinensischen Äußerungen um? Wäre "canceln" dann nicht auch medial vertretbar? Nida-Rümelin warnt vor einem Ausblenden von Realitäten. Was im Gazastreifen passiere, sei in jeder Hinsicht schrecklich. Natürlich gebe es Grenzen des Diskutierbaren im öffentlichen Raum. Das gelte vor allem für Straftaten. Andere Grenzen wiederum müssten immer wieder ausgehandelt werden. In der Aufklärung sei man sich über fast nichts einig gewesen, außer darüber, dass Freiheit und Gleichheit für alle gelten. Nur mit einem Konsens, könne man streiten.

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