Tag des offenen Denkmals:Vom Bauerndorf zur Gartenstadt

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Mit dem Bau der Bahn an den Starnberger See erlebte Gräfelfing um 1900 einen ungeahnten Boom. Immobiliengesellschaften kauften Land und vermarkteten es in München und später sogar in Preußen. Am kommenden Sonntag stehen Villen aus der Zeit zur Besichtigung.

Von Patrik Stäbler, Gräfelfing

Das wohl grandioseste Projekt in der Geschichte Gräfelfings ist über die Planungsphase nie hinausgekommen. Leider oder zum Glück? Bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander.

Unter dem Namen "Parkurbo" plante Architekt Fritz Sievers im Jahr 1912 am Ostufer der Würm eine Hauptstadt für die weltweite Esperanto-Gemeinde - mit 500 Einfamilienhäusern, Kirche, Theater, Kasino, viel Grün und einigem mehr. Auf einem Areal so groß wie 140 Fußballfelder. Ein Münchner Bankier hatte das Grundstück gesponsert; finanziert werden sollte der Esperanto-Traum über eine Lotterie mit einer Villa als Hauptpreis.

Aus diesen hochfliegenden Plänen wurde letztlich nichts. Und dennoch hat sich Gräfelfing zu Beginn des 20. Jahrhunderts drastisch verändert. Vom "ersten großen Umbruch" in der Geschichte des Orts spricht Friederike Tschochner. Die langjährige Gemeindearchivarin meint damit die Entwicklung vom Bauerndorf zu einer Gartenstadt mit prächtigen Villen, von denen es etliche heute noch gibt, etwa an der Bahnhof-, Tassilo- und Professor-Kurt-Huber-Straße sowie allen voran an der Steinkirchner Straße.

Diese Gebäude - allesamt erbaut im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts - stehen im Zentrum einer Führung durch die Gräfelfinger Villenkolonie, die am kommenden Sonntag anlässlich des Tags des offenen Denkmals stattfindet, unter Leitung von Friederike Tschochner. "Wir werden unseren Rundgang unten an der Würm beginnen, im alten Dorfkern", sagt die 73-jährige Autorin des Buchs "Villen in Gräfelfing". Dort hätten jahrhundertelang die Höfe der örtlichen Bauern gestanden, und viel mehr habe es im Ort auch nicht gegeben, erzählt Tschochner - bis um 1900 eine rasante Entwicklung einsetzte.

Ausgangspunkt war zum einen der Anschluss der Gemeinde an die Wasser-, Gas- und Stromversorgung, zum anderen der Bau der Eisenbahnlinie zum Starnberger See mit Haltestellen in Gräfelfing und Lochham. In der Folge witterten Immobiliengesellschaften das große Geschäft: Sie erwarben von den örtlichen Landwirten weitläufige Grundstücke und verkauften diese parzelliert, erschlossen und teilweise schon mit Villen bebaut - zunächst vor allem an reiche Münchner.

"Es gab Kataloge, in denen die Häuser und ihre Lage angepriesen wurden", sagt Friederike Tschochner. Damals galt Gräfelfing als Badeort und Ausflugsziel für stadtgeplagte Münchner. "Da war dann von der lieblich plätschernden Würm die Rede, vom wunderbar weichen Wasser und von der gesunden Landluft, die Ärzte empfehlen."

In der Folge entstand bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Villenkolonie, und das kleine Dorf Gräfelfing entwickelte sich immer mehr in Richtung Bahnhof hin. Unter anderem entstanden breite Alleen wie die Tassilo- und die Bahnhofstraße, an der 1909 das neue Schulhaus gebaut wurde, zugleich Heimat der Gemeindeverwaltung. Binnen weniger Jahre stieg die Einwohnerzahl in Gräfelfing von 465 (1900) auf 1074 (1912).

Zwischen den alteingesessenen Bauern und den Neubürgern in den Villen - darunter Unternehmer, Kaufleute, Künstler und Wissenschaftler - habe es durchaus Reibereien gegeben, erzählt Tschochner. "Das waren ja zwei komplett unterschiedliche Welten, die da aufeinandergeprallt sind." Zumal von 1906 an, als die Immobiliengesellschaften ihre Grundstücke und Häuser der geringen Nachfrage wegen nicht mehr nur in München anpriesen, sondern auch in ganz Bayern und sogar in Preußen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in den 1920er Jahren weitere Villen - nun vornehmlich auf der anderen Seite der Bahngleise, etwa an der Groso-, Maria-Eich- und Waldstraße sowie an der Ruffiniallee. Wer dort oder östlich des S-Bahnhofs umherspaziert, der trifft bis heute auf etliche malerische Gebäude in unterschiedlichsten Stilrichtungen: von toskanischen Säulen bis barockisierendem Jugendstil, vom Zierfachwerk bis zu Erkern und Türmchen.

"Die Leute denken immer, dass so vieles verschwunden ist", sagt Friederike Tschochner, "dabei sind viele der alten Villen noch erhalten." Zu diesen Kleinoden will sie die Teilnehmer am Sonntag führen, wobei auch ein Blick auf die andere Würm-Seite nicht fehlen darf. Dorthin also, wo einst eine Hauptstadt für Esperantisten aus aller Welt entstehen sollte - und wo sich heute ein Gewerbegebiet erstreckt.

© SZ vom 02.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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