Elias sitzt im Polizeipräsidium und fühlt sich wie bei einem Verhör. Die beiden Polizisten legen ihm Fotos von einer Frau vor, stellen ihm Fragen zu ihr, sagen ihm, sie sei keines natürlichen Todes gestorben, vermutlich Suizid. "Ich kenne die nicht!", betont Elias mehrmals. Erst als die Beamten ihm ein Bild vorlegen, das die Frau in jüngeren Jahren zeigt, erkennt er sie: Es ist Isi, Isabella, mit der er als 18-Jähriger für ein paar Monate zusammen war. Und mit der er, wie er sich erinnert, "Scheiße" Schluss gemacht hat. Für sie war die Beziehung keineswegs vorbei. Jedenfalls nicht in ihrer Traum-Welt. 30 Jahre lang schrieb sie jeden Tag einen Brief an ihn, schickte sie aber nie ab. Sie verfolgte ihn, wusste, wo er beruflich gewesen war - als Historiker war er viel auf Reisen. Koffer voller Briefe hätten die Polizisten gefunden, wie sie sagen. Elias ist geschockt - gleichzeitig ist es für ihn der Anlass, sich auf die Suche nach sich selbst zu machen.
In ihrem neuen Roman "Koffer voller Briefe" begibt sich die Autorin Stefanie Gregg, die mit ihrer Familie in Ottobrunn lebt, auf 226 Seiten zu den Urgründen der Menschheit. Sowohl örtlich als auch psychologisch. Auf seinen beruflichen Reisen besucht Elias, der das Altertum erforscht, die Pyramiden von Gizeh, die zu den ältesten Bauwerken der Menschheit zählen, und Göbekli Tepe in Südostanatolien, die als älteste Tempelstätte der Welt gilt. Isabella schreibt in ihren Briefen, wie sie ihn begleitet. Sie fingiert eine perfekte Partnerschaft mit ihm. Sie lebt im scheinbar idyllischen Bruckmühl, wo auch Elias herkommt. Sie ist aber keineswegs glücklich, sondern verzweifelt. Man kann ihr Leid förmlich mitfühlen und man fragt sich, was in den Menschen vor sich geht.
In Elias, der in München lebt, der eher ein Lebemann ist und seine Freundinnen wechselt, ohne sich groß zu kümmern, löst die Erkenntnis, von der Frau jahrelang verfolgt worden zu sein, Angst aus. Ihn plagen aber auch große Schuldgefühle. Er will Dinge wieder gut machen, er wagt einen Neuanfang. Eines Abends sagt er zu seiner Tochter: "Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich war für jemanden wichtig. Und ich habe ihn einfach ignoriert, er war mir egal." Schließlich beginnt er, die Menschen in seinem Umfeld, die er früher nicht gut behandelt hat, zu fragen, wie es ihnen geht, und ihnen zu helfen. So entspinnen sich Lebensgeschichten. Er trifft beispielsweise einen alten Klassenkameraden, der schon immer einen ausgeprägten Ordnungs- und mittlerweile auch Statistik-Fimmel hat, und den er früher deshalb hänselte. Elias bringt ihn schließlich darauf, dass er autistische Züge haben könnte, und hilft ihm mit dieser Diagnose. Elias trifft noch einige andere alte Bekannte - ob alle Begegnungen gut ausgehen, wird nicht verraten.
Gregg zeichnet in ihrem Buch interessante Charaktere, die über das Leben nachdenken, die sich vielleicht auch selbst noch nicht gefunden haben. Die 1970 in Erlangen geborene Autorin hat sich bei ihren Romanen schon oft mit tiefgründigen, psychologischen Themen auseinandergesetzt. "Mich interessieren Menschen, ich will wissen, was in ihnen vorgeht", beschreibt sie ihren Antrieb. "Mich interessiert auch, wie Menschen mit sich hadern." Auch das Unbewusste nimmt sich die Frau, die Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und über das Lachen promoviert hat, gerne vor. So hat sie sich in ihren recht erfolgreichen "Nebelkinder"-Büchern damit beschäftigt, was von den Kriegs-Traumata der Großeltern auch bei den späteren Generationen hängen bleibt. Oft steckt auch Autobiografisches in ihren Werken, auch ihre Mutter ist geflüchtet und sie ist eine Kriegsenkelin, wie sie sich nennt. Der dritte Band der Reihe kommt im September heraus.
"Koffer voller Briefe" derweil beruht nicht auf Greggs eigener Lebensgeschichte, aber auf der einer anderen Person. Ein Facebook-Bekannter, den die Autorin von der Recherche zu einem anderen Buch kannte, erzählte ihr einmal einen Ausschnitt aus seiner Lebensgeschichte. Von der Frau, die ihm 30 Jahre lang jeden Tag einen Brief geschrieben, aber diesen nie abschickt und eine fiktive Beziehung mit ihm geführt hatte. Die Ottobrunnerin habe sofort gewusst, "darüber will ich schreiben - das ist so faszinierend und unglaublich zugleich". Normalerweise greift sie bei ihren Büchern, früher auch viele Krimis, heute vor allem Romane, nicht auf fremde Lebensgeschichten zurück. Öfter einmal schöpft sie aus Anregungen, die ihr etwa beim Spazierengehen mit dem Hund kommen.
Mit ihrem neuen Roman ist ihr ein berührendes, leicht lesbares und zum Nachdenken anregendes Buch gelungen. Sie nimmt den Leser in Elias' jetziges Leben mit, lässt ihn sein Hadern mit sich selbst und seinen Wunsch, es besser zu machen als früher, erleben. Genauso lässt sie einen in die träumerische und zugleich bedrückende Gedankenwelt von Isabella eintauchen. Unweigerlich kommt einem in den Sinn, wie schnell ein Ereignis alles auf den Kopf stellen kann, das man nicht selbst in der Hand hat, und wie wichtig es ist, dass man die Menschen in seinem Umfeld respektvoll und aufrichtig behandelt. "Ich würde mich freuen, wenn die Menschen das Buch zuschlagen und es bleibt noch etwas, ein Gedanke", sagt Gregg, die hauptberuflich als Autorin arbeitet. "Es ist eine Aufforderung zum Reflektieren."
Dass der Roman nun am Dienstag, 8. August, offiziell erscheint, bedeutet Gregg viel. Einerseits, weil er schon länger teilweise geschrieben in der Schublade lag und ihn der kleine Verlag "Edition federleicht" nun herausbringt. Andererseits, weil der Mann, auf dessen Geschichte das Buch beruht, Krebs hat und im Sterben liegt. "Das Buch ist auf dem Weg zu ihm", sagt Gregg.
Stefanie Gregg, "Koffer voller Briefe", Verlag Edition federleicht, ISBN 978-3-946112-88-4
Die Autorin heißt Stefanie Gregg, nicht Greggs, wie es in einer früheren Version fälschlich in der Überschrift hieß.