Neue Technik erleichert Polizeiarbeit:Das absolute Auge

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Ein Traum für Ermittler: Mit einer rotierenden Spezialkamera kann die Polizei Tatorte künftig detailgetreu dokumentieren.

Susi Wimmer

"Es ist der Sprung ins digitale Zeitalter", sagt Kriminaloberrat Ernst Schwanghart und starrt auf den Computerbildschirm. Dort flimmert wie bei einem Videospiel ein vollsphärisches Bild, ein Schlafzimmer ist zu sehen. Schwarzes Himmelbett-Gestell, dekoriert mit weißen Schals, penible Ordnung. Nur an der Wand ein winziger Blutfleck. Hier wurde ein Mann ermordet. Auf dem Wasserbett.

Kriminalhauptkommissar Stefan Preiß mit seiner 360 Grad Kamera SceneCam. (Foto: Stephan Rumpf)

Per Mausklick geht der Besucher weiter durch die Wohnung des Opfers: ins Wohnzimmer, in die Küche, den Gang. Dabei kann er die Blickrichtung ändern und gleichzeitig alle von der Polizei gesicherten Spuren abrufen: den unbekannten Fingerabdruck am Kühlschrank, DNS-Spuren des Opfers, den Inhalt einer Schublade, die mit Luminol behandelte Badwand, die einen in Blut getränkten Handabdruck des Täters sichtbar macht.

Der Betrachter befindet sich quasi mitten im Tatort. Und zwar in einem völlig realen: In dieser Wohnung wurde im Januar 2009 der Münchner Koch Markus Schindlbeck von einem ehemaligen Kollegen ermordet und im Bad zerstückelt. Mit Hilfe einer SceneCam hat die Münchner Polizei den Tatort digitalisiert und für alle Ermittler "begehbar" gemacht. Ein Verfahren, das in Bayern noch einzigartig ist.

Etwas futuristisch sieht es schon aus, wenn Stefan Preiß neben der SceneCam steht und die auf einem Stativ montierte Kamera in Bewegung setzt: Sofort schalten sich kreisrunde Lichter an, mit leisem Surren filmt die Kamera und dreht sich um 360 Grad. "Wir können jetzt gehen", sagt der Leiter der Spurenkommission 1.

Die Tatortarbeit übernimmt SceneWorks. Innerhalb von etwa drei Minuten erfasst das Fischaugen-Objektiv den ganzen Raum, von der Decke bis hin zum Boden. 26 Blendenstufen sorgen dafür, dass der Blick zum Fenster genauso deutlich zu sehen ist wie der Ausschnitt von einer dunklen Ecke. Der Betrachter wird später den Eindruck haben, direkt im Zimmer zu stehen. Er kann den Blick in alle Richtungen schwenken, sich um die eigene Achse drehen und beispielsweise per Mausklick abmessen, wie weit die Tatwaffe vom Opfer entfernt liegt.

Konzipiert wurde die Kamera eigentlich für Werbezwecke von einer Firma aus der Nähe von Kaiserslautern. Solventen Kunden kann man so beispielsweise Luxuswohnungen vorführen, ohne dass der künftige Käufer sich aus seinem Sessel erheben muss.

Vor sieben Jahren, erzählt Kriminalhauptkommissar Preiß, sei ein Firmenmitarbeiter auf ihn zugekommen mit der Idee, auch Tatorte auf diese Weise zu erfassen. Immer wieder lieh sich die Spurensicherung das SceneWorks-System aus, testete es, ließ nachrüsten, bis es für Polizeizwecke ausgereift und der Preis von 120 000 Euro vom Ministerium abgesegnet war.

TOB - so nennen die Kriminaler den Tatortbefundsbericht. Und der war bislang so abschreckend umfangreich wie das Wort an sich: Tonnenweise Blätter, Aktenordner voll mit Tatortfotos, Detailaufnahmen, minutiöse Beschreibungen wie: wo lag das Messer genau, wie sieht das Zimmer aus, in dem die Leiche gefunden wurde, war das Fenster gekippt, das Weinglas umgefallen oder der Safe durchwühlt?

"Jetzt passt alles auf eine DVD", sagt Preiß. Natürlich geht der Spurensicherer weiterhin in die Knie, wenn er die Türe einer Tatortwohnung geöffnet hat und pinselt auf allen Vieren jede Bodenfliese auf der Suche nach Spuren ab. Die Dokumentation allerdings funktioniert per Kamera. "Die stellen wir in ein Zimmer rein, wenden uns einem anderen Raum zu und wenn die Aufnahme fertig ist, piepst das Gerät", erzählt Preiß.

Zurück im Büro lädt er die Aufnahmen auf den PC. Ab diesem Zeitpunkt können die Ermittler auf diese Bilder zugreifen. Und Stefan Preiß verknüpft die Aufnahmen peu à peu mit den Erkenntnissen der Spurensicherung: so genannte "Hotspots" zeigen an, wo Fingerabdrücke, Faserspuren oder DNS gefunden wurde, ob die Spur dem Täter, dem Opfer oder einem noch Unbekannten zuzuordnen ist, wo Munition gefunden wurde, was sich in der aufgezogenen Schublade befindet oder welche Gegenstände die Polizei als Asservate eingesammelt und mit welchem Ergebnis untersucht hat.

"In Blut gesetzte Handflächenspur. Bad, Wand, Stirnseite über Haltegriff, h=52-62cm. Turbo: negativ", steht beispielsweise in einem "Hotspot" der Schindlbeck-Wohnung. Der Täter hatte die Leiche des Kochs ins Bad geschleift und dort zerstückelt, um sie leichter wegschaffen zu können. Anschließend wischte er alle Blutlachen weg.

Doch das reichte nicht: Mittels Luminol konnte die Polizei die Schleifspuren im Gang sichtbar machen und auch die im Bad, wo sich der Täter an der blutbespritzten Wand mit einer Hand abgestützt hatte. Die Fingerabdrücke wurden mit der Polizei-Datenbank abgeglichen, ohne Erfolg. Der Täter war bis dato polizeilich noch nicht erfasst worden In Kriminalersprache: "Turbo: negativ".

Rund 600 Spuren umfasste die Tatortwohnung Schindlbeck. Großartig blättern muss der Ermittler nicht mehr, um diese einzusehen. Er klickt sich einfach durch den Tatort. Er kann wie im Fall des Banküberfalls und der Schießerei 2008 in Kirchheim die Videos der Überwachungskamera in der Bank einspielen und mit den anderen gesicherten Spuren vergleichen oder im "Fall Schindlbeck" die Spuren ordnen und dem Computer sagen: Ich will alle Spuren des Opfers sehen, des mutmaßlichen Täters oder alle Asservate. "Früher", sagt Preiß, "musste man den TOB dafür umschreiben".

"Technisch ist das natürlich eine positive Entwicklung", sagt auch Richard Thiess, Viezechef der Münchner Mordkommission. Sind die Ermittler vom Tatort zurück, können sie sich sofort virtuell wieder einklinken, beispielsweise noch während der Vernehmung eines Tatverdächtigen.

"Wenn der uns erzählt, der Schürhaken lag am Boden, als er aus der Wohnung ging, können wir das sofort überprüfen und Widersprüche aufdecken", so Thiess. Da die Ermittler an einem "frischen" Tatort nicht beliebig jedes Behältnis öffnen oder blutbespritzte Bereiche betreten dürfen, bevor nicht die Spurensicherung ihre Arbeit getan hat, kann sich der Mordermittler so virtuell in der Wohnung umschauen.

Allerdings, räumt Thiess ein, könne die neue Technik auch Begehrlichkeiten bei Juristen wecken. Der Anwalt des mutmaßlichen Täter könnte fordern, dass etwa im Geschirrschrank, den er per Mausklick öffnen kann, alle Teller erkennungsdienstlich behandelt werden sollen, "auch wenn das in unseren Augen überhaupt nicht tatrelevant ist", meint Thiess. Und dann, sagt der Kripobeamte, "könnte SceneWorks auch recht zeitaufwendig werden".

© SZ vom 06.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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