Mitten in Grünwald:Einmal wieder jung sein

Mit den Ausgangssperren und bei gelegentlichen Verstößen dagegen erwachte wieder ein seit Jugendtagen nicht mehr verspürtes Gefühl: die Angst, erwischt zu werden, wenn man zu spät nach Hause kam

Kolumne von Claudia Wessel

Mit Angstlust öffnete man als Teenager mitten in der Nacht die Haustür. Bis zu dem Moment war alles gut gegangen. Der nette junge Mann, der einen von der Disco heimgefahren hatte, hatte einige Häuser weiter geparkt, man war durchs Hoftor geschlichen, hatte den Schlüssel unhörbar ins Schloss gesteckt. Wenn dann nur nicht dieses "Klick" gewesen wäre, das die Eltern vermutlich absichtlich eingebaut hatten. Sobald man danach die Zwischentür öffnete, sah man das Theaterstück, das regelmäßig aufgeführt wurde.

Die Mutter oben an der Treppe in langem weißem Nachthemd, den Handrücken an der Stirn: "Du bringst mich noch ins Grab!" Der Vater daneben in zerwühltem Schlafanzug, gestresst, ob eher von seiner Frau oder der Tochter, wer weiß? Der Weg ins Bett führte vorbei an den Horrorgeschichten, die alle hätten passieren können und die sie einem nachriefen. Sie sahen es als ihren Erziehungsauftrag, der Tochter mehr Angst als Lust zu machen.

Einen Kick wie diesen hatte man jahrzehntelang nicht mehr erlebt. Die Vorstellung, dass es von einer bestimmten Uhrzeit an gefährlich sein könnte, noch nicht zu Hause zu sein. Dass zu spät heimkommen bestraft werden könnte, und wenn nur durch eine blödsinnige Predigt. Dann kamen die Corona-Ausgangssperren, und da war es wieder, das Gefühl von damals. Ob aus Angst vor dem Virus oder dem Bußgeld oder auch vor den unheimlichen leer gefegten Straßen - wenn man es trotz Verbots wagte, sich draußen herum zu treiben, war man automatisch wieder in diesem kribbelnden Teenie-Zustand. Sogar wer sich nur in die Gemeinderatssitzung nach Grünwald begab - was erlaubt war - , konnte sich fühlen wie 14-Jährige auf Abwegen, die Zusammenkunft leibhaftiger Menschen im Bürgerhaus Römerschanz mutierte dank Corona von einer Pflichtveranstaltung zum Abenteuer. Auf der Heimfahrt hätte man jederzeit von Polizisten gestoppt werden können, und nie und nimmer hätten die einem geglaubt, wo man war.

Und nun kommt heraus, dass die Ausgangssperren zum Teil verfassungswidrig waren. Ganz ehrlich, wundern kann einen das nicht. Schon das Verbot der Eltern seinerzeit hat die Freiheit der Tochter in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt und war keine notwendige Maßnahme. Aber von dem absurden Theater auf der Treppe lässt sich trefflich noch den Enkelkindern erzählen.

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