Prozess:Ein Ausraster mit tödlichen Folgen

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Schauplatz einer Verkettung tragischer Umstände: der Rathausplatz in Unterschleißheim. (Foto: Robert Haas)

Eine psychisch kranke Frau schubst auf dem Rathausplatz in Unterschleißheim einen Rentner. Der fällt hin und ist drei Tage später tot. Jetzt steht die 38-Jährige vor Gericht, doch strafrechtlich geahndet werden kann die Tat nicht.

Von Andreas Salch, Unterschleißheim

Wenn es Senay R. ( Name geändert) gut gehe, sagt ihre Betreuerin, dann rede die 38-Jährige "wie ein zehn Jahre altes Kind, sei lebenslustig, offen und voller Ideen". Gehe es ihr dagegen schlecht, habe sie Weinkrämpfe, ziehe sich zurück, sei depressiv und gereizt. Der 4. August 2022 war so ein Tag, an dem es der Frau aus Unterschleißheim, die sich seit vielen Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet, wieder mal nicht gut gegangen sein soll und sie sich durch ihre Umwelt gereizt fühlte. Ein Rentner, der ihr am Nachmittag jenes Tages am Rathausplatz in Unterschleißheim begegnete, bezahlte dies mit seinem Leben: Senay R. schubste ihn, der 77-Jährige fiel rückwärts zu Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt auf. Drei Tage später war er tot.

Senay R. kann aufgrund ihrer Erkrankung strafrechtlich nicht wegen Körperverletzung mit Todesfolge zur Rechenschaft gezogen werden. Die Staatsanwaltschaft am Landgericht München I hat deshalb die zeitlich unbefristete Unterbringung der 38-Jährigen, die sich seit Montag vor der 1. Strafkammer verantworten muss, in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik beantragt. Als Richterin Elisabeth Ehrl die Angeklagte darüber belehrt, dass sie keine Angaben machen müsse, entgegnet diese sofort: "Ich möchte nichts sagen." Und fügt dann doch hinzu, dass es ihr "von ganzem Herzen leid tut, und ich das nicht wollte".

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Wenige Wochen vor der mutmaßlichen Tat hatte Senay R., wie schon öfters in der Vergangenheit, eigenmächtig ihre Medikamente abgesetzt. Einem psychiatrischen Sachverständigen hatte sie berichtet, sie habe geglaubt, dass sie sie nicht mehr brauche. Ihr Zustand verschlechterte sich jedoch zusehends, sie wurde depressiv, blieb im Bett liegen, eine Arbeit hatte sie nicht. Die 38-Jährige ist aufgrund ihrer Krankheit Frührentnerin.

Am Nachmittag des 4. August 2022 hatte R. beschlossen, Geld am Automaten einer Bank am Rathausplatz in Unterschleißheim abzuheben. Zu diesem Zeitpunkt sei sie "sauer auf sich selber und auf alle anderen gewesen", berichtet der Forensiker dem Gericht. Senay R. begann Blumen aus Pflanzbehältern vor der Bank herauszureißen, der 77-jährige Wolfgang W. ( Name geändert) sprach sie an und forderte sie auf, sofort damit aufzuhören, andernfalls alarmiere er die Polizei.

Das Opfer wollte nicht im Krankenhaus bleiben, um seine pflegebedürftige Frau nicht alleine zu lassen

Senay R. soll daraufhin auf Wolfgang W., der auf eine Gehhilfe angewiesen war, zugegangen sein und ihn "zweimal wuchtig mit den Händen gegen die Brustregion" gestoßen haben, wirft ihr die Staatsanwaltschaft vor. Der 77-Jährige stürzte, R. lief weg. Passanten und ein Arzt, die das Geschehen beobachtet hatten, kümmerten sich um Wolfgang W. und verständigten einen Rettungsdienst. Im Helios-Amper-Klinikum in Dachau diagnostizierten Ärzte ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades sowie eine Schädelprellung. Hinweise auf Blutungen im Schädel des 77-Jährigen gab es nicht. Wolfgang W. klagte lediglich über Kopfschmerzen. Die Ärzte rieten ihm dennoch, die nächsten 24 Stunden im Krankenhaus zu bleiben, da es im weiteren Verlauf noch zu Blutungen im Schädel kommen könne und er wegen einer Vorerkrankung blutungsgerinnende Medikamente einnahm. Doch Wolfgang W. entschied sich anders. Er wollte nach Hause, weil er seine pflegebedürftige Frau nicht allein lassen wollte.

Einen Tag nach dem Vorfall auf dem Rathausplatz stellte er sich bei seinem Hausarzt vor. Bei der Untersuchung ergaben sich keine Anzeichen auf neurologische Ausfallerscheinungen. Zwei Tage später, am 7. August, fand der Sohn den Vater reglos in seinem Bett liegen. Er hatte sich erbrochen. Ein Rettungsdienst brachte Wolfgang W. noch in eine Klinik, wo er am Abend infolge einer Blutung im Gehirn starb.

Während der Vernehmung des psychiatrischen Sachverständigen meldet Senay R. sich immer wieder kurz zu Wort, obwohl sie eigentlich nichts sagen wollte. "Die Blumen haben mich gestört", erklärt sie und sie habe um ihre Mutter getrauert. Diese war im April vergangenen Jahres gestorben. Den Rentner Wolfgang W. habe sie "aus Versehen geschubst". Nach der Tat wurde Senay R. vorläufig in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen. Zu Richterin Ehrl sagt sie, sie wolle wieder arbeiten und in einer offenen therapeutischen Einrichtung untergebracht werden. Und irgendwann später wolle sie wieder in ihre Wohnung. Ein Wunsch, der wohl unerfüllt bleiben wird.

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