Nationalsozialismus:Eine Zeitreise zu den Verbrechen

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Der Ärztliche Direktor Peter Brieger bei der Präsentation des Schaubilds im Hauptgebäude des Isar-Amper-Klinikums. (Foto: Sebastian Gabriel)

Ein Schaubild im Hauptgebäude des Isar-Amper-Klinikums in Haar stellt die NS-Euthanasie in einen historischen Kontext und zeigt dessen Entwicklung.

Von Bernhard Lohr, Haar bei München

Bis Ende Februar 2019 ist Peter Brieger auf dem Weg in sein Büro stets an der Galerie seiner Vorgänger vorbeigelaufen. Dann ließ der Ärztliche Direktor des Isar-Amper-Klinikums (IAK) in Haar die Bilder abhängen und setzte an die Stelle eines Fotos des glühenden Nationalsozialisten Hermann Pfannmüller, der eifrig das Euthanasie-Programm umsetzte und Tausende Patienten ermorden ließ, einen Aufruf: Er appellierte an alle Mitarbeiter, sie mögen mithelfen, ein Konzept für eine Erinnerungsarbeit zu schaffen, die der wechselvollen und phasenweise schrecklichen Geschichte der Klinik gerecht werde. Seit diesem Dienstag ist das Ergebnis im Treppenhaus, wo der Direktorengang abzweigt, offiziell für alle Besucher zugänglich. Auf den Tag 117 Jahre nach Eröffnung der damaligen Heil- und Pflegeanstalt am 12. Juli 1905 wurde dort eine "synchronoptische Zeitleiste" präsentiert.

Seit 1905 ist viel passiert in der Welt und in der Psychiatrie und aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt wurde das Isar-Amper-Klinikum als Einheit im Klinikverbund des Bezirks. Kurz nach der Eröffnung 1905 war Prinzregent Luitpold nach Eglfing-Haar gekommen und hatte sich durch die als fortschrittlich geltenden Gebäude im Pavillonstil führen lassen, die wie ein Dorf den Psychiatrie-Patienten zur Heilung verhelfen und eine Heimat geben sollten. Bald folgten jedoch die NS-Verbrechen der "Euthanasie", als Haar unter Direktor Pfannmüller in Bayern zum Drehkreuz der Patientenmorde wurde. Diese Zeit wurde nach dem Krieg erst verdrängt, dann verschämt zur Kenntnis genommen. Heute wird sie aufgearbeitet, um die Zukunft gestalten zu können. Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) sagte bei der kurzen öffentlichen Präsentation der Zeitleiste am Dienstag: "Wir wollen unsere Geschichte aufarbeiten, wir wollen unsere Geschichte verstehen, wir wollen sie sichtbar machen."

Die Zeitleiste macht in Balkendiagrammen anschaulich, wie die Mortalität während der Zeit der Euthanasie-Morde nach oben schießt. (Foto: Sebastian Gabriel)

Die komplexe, fünf Meter breite und zwei Meter hohe Grafik soll dabei helfen. Sie führt auf einem Zeitstrahl von 1905 bis 2021 auf sieben Ebenen ganz unterschiedliche Dinge vor Augen. Bilder ikonischer Momente oder Figuren des 20. Jahrhunderts markieren die Jahre: Kaiser Wilhelm, Untergang der Titanic, Albert Einstein, Kniefall Willy Brandts in Warschau, Barack Obama. Eine Impfsituation stellt die Corona-Pandemie und die Gegenwart dar. Wer ganz auf dem Schaubild nach oben blickt, entdeckt in Grafiken, dass die Anstalt nach ihrer Eröffnung 1233 Patienten zählte und im Jahr 2021 immerhin 17 088 Patienten versorgte. Balkendiagramme zeigen, dass sich diese zu Beginn des Jahrhunderts im Durchschnitt 354 Tage auf Station befanden, 2021 aber nur noch 25. In der NS-Zeit, die grafisch und inhaltlich im Zentrum des Schaubilds steht, stieg die Aufenthaltsdauer auf mehr als 1000 Tage. Und viele Patienten wurden ermordet. Die Balken, die die Mortalität über die 117 Jahre hinweg im Verhältnis zu den Entlasszahlen beschreiben, schießen von 1939 bis 1945 steil in die Höhe.

In feinsäuberlicher Handschrift ist dokumentiert, wie eine Patientin zu Tode gehungert wurde

Fotografien machen das Gezeigte anschaulich. Hier findet Hermann Pfannmüller im passenden Kontext wieder seinen Platz. Auch die Gewichtstabelle der Patientin Emmy Rowohlt ist zu sehen, auf der Klinikpersonal feinsäuberlich in Handschrift dokumentiert hat, wie sie verhungerte. 57 Kilo wog sie im Januar 1941, 56 Kilo im Januar 1942, 52 im Januar 1943 und 38 im September 1944, als sie in einem der Hungerhäuser entkräftet starb. Der Historiker Winfried Helm wirkte mit, in eineinhalb Jahren die Zeitleiste zu entwickeln. Er sagte, diese gebe "Einblick auf einen Blick" und korrigierte dies sogleich. Sie sei vielmehr "Blickfang" und "Interessewecker". Je nachdem, wo die Augen hin schweiften, rufe sie Assoziationen hervor und ermögliche Gedankensprünge, die zu neuen Erkenntnissen führten.

Winfried Helm vollzog auf dem Schaubild einen Gedankensprung vom Untergang der Titanic im Jahr 1912, wo der Mensch in seinem überhöhten Technikglauben scheiterte - weiter zum Buch eines Strafrechtlers und eines Psychiaters über die "Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" im Jahr 1920. Die Anmaßung der Nationalsozialisten, sich zu Herren über Leben und Tod aufzuschwingen, sei früh angelegt gewesen. Mederer lobte die Zeitleiste als didaktisch ausgereiftes Instrument, weil sie den Fokus nicht auf die NS-Jahre verenge. Die Geschichte und die Weiterentwicklung der Klinik sei "auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und deren Änderungen". Die Zeitleiste mache die verschiedenen, miteinander verwobenen Ebenen erkennbar.

Eine Installation zum Gedenken am Haupteingang der psychiatrischen Klinik in Haar. (Foto: Sebastian Gabriel)

Im Sommer vergangenen Jahres wurde bei einer Veranstaltung vor einem Bauzaun, der heute mit einem Verweis auf die "Würde des Menschen" noch vor dem Hauptgebäude steht, ein umfassendes Konzept für eine Erinnerungskultur vorgestellt, an dem der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit, mitgewirkt hat. Die Zeitleiste gehört in diesen Kontext. Für die kommende Woche kündigte Klinikdirektor Brieger einen Workshop an und sprach von anstehenden Treffen mit Angehörigen der Patientenmorde. Als nächstes will man das zentrale Mahnmal auf dem Klinikareal zugänglicher machen. Gedenk- und Informationstafeln an den einstigen Hungerhäusern und der ehemaligen Pathologie des Klinikums sollen Tatorte markieren. Im Sommer 2023 soll ein Ethikkomitee seine Arbeit aufnehmen.

Erinnern als Gemeinschaftswerk: Klinik-Geschäftsführer Franz Podechtl mit Brigitta Wermuth, Winfried Helm, Bezirkstagspräsident Josef Mederer, dem ärztlichen Direktor Peter Brieger und Sabine Brüchmann, einer Mitarbeiterin in der Pflegedirektion (von links). (Foto: Sebastian Gabriel)

Sabine Brüchmann ist Referentin in der Pflegedirektion. Sie hat im März 2019, als Brieger die Direktorengalerie abhängen ließ, den auch per E-Mail verschickten Aufruf ernst genommen und sich als Mitarbeiterin des Klinikums eingebracht in die Arbeit. Sie sagte jetzt: "Erinnerungskultur muss spürbar sein", um für die Zukunft wirksam werden zu können. Es gelte, weiter Stigmata zu beseitigen. Bis zu einer "bedarfsgerechten Versorgung" von psychisch Kranken "war es ein weiter Weg".

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