Prolog: Der Geiger gehört jetzt mir. Jedenfalls für eine gewisse Zeit. Mein Vergnügen ihn zu betrachten - bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen und in verschiedenen Stimmungen - ist unendlich groß. "Rot ist Leben, Energie, Potenz, Macht, Liebe, Wärme, Kraft. Mit ihrer Fähigkeit zu stimulieren ist sie in machtvoller Funktion", sagte Rupprecht Geiger über seine Kunst. Wie recht er doch hatte. Ich weiß, dass schon einige Menschen in der Artothek nachgefragt haben, wann er denn wieder zur Verfügung stehe. Aber sorry Leute, fürs erste gehört der Geiger mir. Und ich kann nicht versprechen, dass ich ihn vor Ablauf der Ausleihfrist zurückbringe.
Dass man in Bibliotheken Bücher ausleihen, sie mit nach Hause nehmen und in aller Ruhe lesen kann, ist bekannt. Dass man das gleiche aber auch mit Kunst tun kann, wissen nur wenige. Dabei gab es die Idee der Kunstausleihe schon im 19. Jahrhundert in den USA, bald auch in Deutschland. Durch die Ausleihe sollte jeder die Möglichkeit erhalten, Kunst in Ruhe zu Hause zu studieren. Der Bildungsauftrag stand im Vordergrund. Damals gehörten Buch- und Kunsthandel noch zusammen, und über die Distributionskanäle der Bücher wurde auch die Kunstausleihe organisiert. Im 20. Jahrhundert trennten sich beider Wege. Der eigenständige Kunstverleih begann, beispielsweise in Frankfurt und Berlin. Die Nationalsozialisten machten der zeitgenössischen Kunst auch hier den Garaus. Und es dauerte bis in die 1970er Jahre, bis in Berlin Reinickendorf und anderen Orten gleich mehrere Artotheken eröffneten.
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Mittlerweile gibt es in Deutschland etwa 150 dieser öffentlichen Kunstausleihen. Die meisten sind städtisch organisiert und verlangen nur eine geringe Gebühr. Doch die öffentliche Hand zieht sich mehr und mehr zurück, es gibt eine Tendenz zur Public Privat Partnership, wie Johannes Stahl aus dem Vorstand des Artothekenverbands berichtet. Dieser kümmert sich bundesweit um die Kunstausleihen und bietet auch Fortbildung für Artothekare an. Die meisten Einrichtungen gibt es übrigens in Nordrhein-Westfalen. Die Münchner Artothek, die wie die in Bonn vor nunmehr 30 Jahren gegründet wurde, zählt bundesweit mit zu den größten.
Wer in München an den Schaufenstern am Rosental vorbeigeht, erkennt nicht sofort, was sich dahinter verbirgt. Das liegt zum auch daran, dass die Schaufenster des Stadtmuseums angrenzt und die Glasfront zudem den Blick in die Ausstellungsräume der Artothek frei gibt. Denn die Institution, die unter der Obhut des Kulturreferats agiert, ist nicht nur ein Bilderverleih, sondern auch eine Galerie. Regelmäßig wird hier zumeist jungen Münchner Künstlern eine Plattform geboten. Viele Werke der Artothek gehen auf Ausstellungen in den städtischen Kunsträumen zurück. Zu ihrem Auftrag gehört auch, durch Ankäufe die zeitgenössische Kunstlandschaft Münchens zu fördern. An die 2000 Exponate von mehr als 800 Künstlern stehen mittlerweile in der Sammlung zur Auswahl.
Christian Schubert mag vorwiegend abstrakte Kunst. Derzeit hat er aber eine Landschaft aus der Artothek ausgeliehen. "Ich habe sie dann verkehrt herum aufgehängt, das fand ich noch eindrücklicher und spannender", erzählt er. So viel Freiheit, mit der Kunst umzugehen, hat man eben nur zu Hause. Der 64 Jahre alte Pädagoge kam 1995 von Hamburg nach München und entdeckte alsbald die Artothek, die damals noch am Jakobsplatz war. "Ich fand die Idee mit der Ausleihe toll, aber es hat eine Weile gedauert, bis ich selbst Kunde wurde", erinnert er sich.
Neben Malerei, Grafik und Fotografie finden sich auch kleine Plastiken oder skulpturale Bildwerke in der Sammlung. Derzeit wird diskutiert, wie man der zunehmenden Präsenz von Medienkunst gerecht werden kann. Was in die Artothek gelangt, darüber entscheidet eine Ankaufskommission, bestehend aus Kulturpolitikern, Künstlern, Museumsleuten und Mitarbeitern der Artothek. Bei einem Jahresetat von nur circa 15 000 Euro reicht das für 15, vielleicht auch mal 20 Ankäufe im Jahr. Dass sich Schätze wie die Druckgrafik von Geiger oder ein Objekt mit einer von Andy Warhol handsignierten Campbell's Suppendose darunter befinden, geht auf frühe Erwerbungen, Schenkungen und ähnliche glückliche Umstände zurück.
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Immer mehr Kunstinteressenten aus München und dem Umland leihen sich Werke auf Zeit aus. Kein Wunder, denn so günstig kommt man sonst nicht an zeitgenössische Kunst. Der Ausleihausweis kostet regulär fünf Euro, pro Kunstwerk muss man als Privatperson im Monat drei Euro bezahlen, bei gewerblicher Nutzung sind es sieben Euro. Viele Büros und Kanzleien sind Kunden.
Alix Stadtbäumer, die sich zusammen mit Johannes Muggenthaler um die Artothek kümmert, stellt und hängt wieder mal um. Das macht sie recht regelmäßig. Nicht nur, weil es ihr Spaß macht, dadurch selbst immer mal wieder verschiedene Arbeiten näher anzuschauen. Sie weiß auch, dass sie damit selbst langjährige Kunden, die den Bestand schon kennen, neugierig machen kann. Denn neben dem wenigen, was in Petersburger Hängung präsentiert werden kann, steht das meiste dicht an dich aneinander gelehnt. Elvira Vogt gehört zu den langjährigen Artothekkundinnen. Sie würde sich wünschen, "dass mal auf einen Schwung so richtig viel Neues dazu kommt". Alle paar Monate schaut sie vorbei, um für Wohnzimmer und Flur was anderes zu holen. Die meisten Arbeiten leiht sie für wenige Monate aus. "Natürlich habe ich aber ein paar Lieblingsstücke. Die behalte ich dann auch etwas länger", erzählt die 54 Jahre alte Übersetzerin, "oder ich hole sie mir immer wieder mal".
Tatsächlich zirkuliert ein Teil des Bestands der Artothek regelmäßig. Denn das ist der Vorteil am Leihen statt Kaufen: Dass man nach Lust und Laune wechseln kann. Das schätzt auch Johannes Federl, der seit 2013 Kunde ist. Der 38 Jahre alte IT-Spezialist mit seinem Dackel ist in der Artothek bestens bekannt. Er und sein Partner leihen sich vor allem "Kunstwerke, die zur momentanen Stimmung passen" und mischen sie dann mit der zeitgenössischen Kunst, die sie selbst besitzen.
"Wir hatten auch schon mal eine Arbeit von Gerhard Richter zu Hause", erzählt er. Aber er suche nicht nach großen Namen, findet es schön, dass er in der Artothek mit Künstlern vertraut gemacht wird, die noch nicht so bekannt sind und die er noch nicht kennt. Eine Münchner Familie lebt sogar seit Jahrzehnten mit den Werken aus der Artothek und wurde deshalb von einem Künstler mit einer Sonderausstellung geehrt.
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Man kann nicht sagen, dass die Artothekenkunden in München aus allen Schichten der Gesellschaft kämen. Die meisten scheinen einer gebildeten Mittelschicht anzugehören, die Kunst schätzt, auch regelmäßig Ausstellungen besucht, aber nicht in Kunst investiert. Gibt es also auch hier eine Hemmschwelle, ähnlich der bei Museen und Galerien? Die Artothek jedenfalls versucht alles, um sich transparent zu geben und den Eindruck eines elitären Hauses zu vermeiden. Und die Innenstadtlage mit Nähe zum Viktualienmarkt sorgt für Laufkundschaft quer durch die Gesellschaft. Die Leute müssen aber auch reinkommen.
Wer kommt, um was zu holen, muss kreativ sein. Die einen bringen richtige Transportkisten mit und tragen ihre Leihgabe wie einen Alten Meister hinaus. Die anderen fahren mit dem Radl vor und packen die Arbeiten notdürftig bedeckt in den Kinderanhänger oder schnallen sich die Bilder einfach auf den Rücken. Versichert sind alle Werke über die Ausleihgebühr. Und für alle Fälle hält die Artothek auch Lupo-Folie bereit, um das schlimmste zu verhindern.
"Alle achten wirklich sehr darauf, dass nichts beschädigt wird, und das meiste kommt heil zurück", weiß Alix Stadtbäumer. Einmal, erinnert sie sich, erhielten sie völlig andere Werke zurück, als ausgeliehen worden waren. Der Ausleiher hatte die Wohnung untervermietet. Und als die Frist überschritten und die Mahnungen kamen, brachten die Untermieter einfach irgendwas zurück, weil sie nicht wussten, was geliehen und was Privatbesitz war. "Aber das konnten wir dann auch klären", erinnert sich Stadtbäumer und lacht.
Zu den Anekdoten der Institution zählt auch, dass anfangs ältere Leute hinter der Artothek eine Art Apotheke vermuteten und sich dann wunderten, was es da gab. Und schmunzeln muss Stadtbäumer auch, wenn man sie fragt, ob auch welche da waren, die nach einem Dürer oder Rubens fragten. In der Regel erwartet aber keiner in der Artothek einen Alten Meister oder einen Picasso wie in den Pinakotheken.
Dennis Späth, ein 43 Jahre alter Marketingexperte, kam zur Artothek, weil er sich selbst in Sachen Kunst in den eigenen vier Wänden behaupten wollte. Kein einfaches Unterfangen, wenn der Partner nicht nur versierter Sammler, sondern auch noch Direktor eines Museums ist. "Aber", so erzählt Späth, "die Küche ist jetzt mein Refugium". Die dort vorhandenen Plätze über dem Esstisch bespielt er seither mit geliehenen Werken aus der Artothek, deren "abwechslungsreiches Portfolio" er schätzt. "Die Arbeiten müssen eine Geschichte erzählen, das ist mir wichtig."
Deshalb und weil es auch so perfekt zur Küche passt, gehört das Objekt mit der Warhol-Suppendose zu seinen Lieblingstücken. So wie die Geiger-Grafik zu den Lieblingen von Elvira Vogt zählt. Auf die wird sie allerdings noch warten müssen. Denn der Geiger hängt nun bei mir. An einer Stelle, an der das Neon-Pink durch den Lichteinfall verstärkt wird und den Block aus dunklem Rot, der sich in die hell-leuchtende Dreiviertelscheibe hineinschiebt, hervorhebt. Dort wird er mich noch eine Weile erfreuen. Denn ich kann ja verlängern - im Höchstfall bis zu einem Jahr.