Die Bühne im Werkraum der Münchner Kammerspiele gleicht einem Restaurant im Ruhezustand. Nur am vorderen Tisch sitzen zwei Männer. Der eine, Costas Gianacacos, hatte als Kind Ziegen in den Bergen Nordgriechenlands gehütet. Der andere, Tuncay Acar, ist der Sohn türkischer Eltern. Ihre Heimaten gelten seit dem griechisch-türkischen Krieg vor hundert Jahren als verfeindet. Trotzdem sitzt der türkisch-stämmige mit dem griechischen Münchner zusammen und räsoniert: "Ist die Geschichte nicht unser aller Eigentum?"
Sodann erzählen sie diese ihre Geschichte in der musikalischen Lecture-Performance "Biz - Wir - εμείς". Sie erzählen von Menschen, die trotz unterschiedlicher Religionen als friedliche Nachbarn zusammengelebt hatten. Und sie erzählen davon, wie der Krieg diese Nachbarn auseinandertrieb. Vor allem aber erzählen sie von den Nachfahren all der Soldaten, der Geflüchteten und Vertriebenen, die sich als Arbeitsmigranten in deutschen Fabriken begegneten. "Nun standen sie plötzlich tagtäglich zusammen und merkten, dass sie teilweise dieselbe Sprache, ja sogar denselben Dialekt sprachen", heißt es in einem Text, mit dem die Sprecherin Anastasia Tzillinis Bilddokumente erläutert, die von Gene Aichner und dem Illustrator Can Temizgezek auf drei Leinwände projiziert werden. Begleitet wird das Ganze von einer Allstar-Band, deren Musikstücke zweisprachig sind, also gleichermaßen der griechischen und der türkischen Kultur zugeschrieben werden können. Nicht zuletzt zeugt auch die Musik von einer gemeinsamen Kultur.
"Ist die Geschichte nicht unser aller Eigentum?" - Tuncay Acar wirft damit aber auch Fragen auf: Wer etwa ist autorisiert, jene Geschichte zu erzählen? In früheren Zeiten des deutschen Theaters, als der Inhalt gelber Reclam-Heftchen noch das Programm der Münchner Kammerspiele dominierte, hätte man wahrscheinlich einen begabten deutschen Autor gefunden, der sich wohlwollend interessiert mit der gemeinsamen Geschichte der türkisch- und griechisch-stämmigen Bürger Münchens auseinandergesetzt hätte. Vielleicht hätte man auch versucht, Vertreter der vermeintlichen Randgruppen ins Theater zu laden, damit der deutsche Bildungsbürger einen Blick drauf werfen darf. Doch die Münchner Kammerspiele überlassen mittlerweile den Protagonisten selbst die Bühne. Und sofort hören jene auf, Randgruppen zu sein. Letztlich waren sie es auch nie gewesen, sondern immer schon ein Teil der Gesellschaft, der endlich auch im Theater sichtbar wird. Spannenderweise aber nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum! Denn ein Theater, das die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit abbildet, erreicht endlich auch die gesamte Gesellschaft.
Dass die im Stück mitwirkenden Musikerinnen und Musiker nun am 17. März im Import Export ein kleines Festival zu Gunsten der Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei veranstalten, unterstreicht die Nachhaltigkeit guter Theaterarbeit, die mit "Biz - Wir - εμείς" auch andernorts fortwirkt. Weitere Aufführungen des Stücks selbst gibt es in den Münchner Kammerspielen im Mai und im Herbst.