Was eine Anekdote ist? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Jedenfalls bei den Menschen, die Joseph Berlinger auf den Straßen von Regensburg um eine Begriffsdefinition bat. Die Bandbreite reicht von "vielleicht ein Tier" über eine "Erzählung, die eine Moral transportiert" oder eine "Analogie, die einen Vorgang umschreibt" bis hin zur "elaborierten Form des Witzes". Die angenehm schlichte Antwortvariante "keine Ahnung" kommt nur einmal vor.
Die Befragung der Passanten zieht sich wie ein roter Faden durch das neue Hörbuch mit Musiker-Anekdoten, das der Regensburger Regisseur und Autor herausgeben hat. Laut Duden ist eine Anekdote eine kurze, oft witzige Geschichte, die eine bestimmte Persönlichkeit oder eine Zeit charakterisiert. Ob sie wahr ist oder einfach nur gut erzählt, bleibt offen. Das gilt auch für die Texte, die Berlinger ausgewählt hat.
Laut Booklet wäre er auch gern Musiker geworden, aber leider stellte sich ihm ein sadistischer Klavierlehrer in den Weg. Für sein jüngstes Projekt muss er Musiker-Geschichten en masse gelesen haben. Seine Lieblingstexte hat er umgeschrieben, ein wenig inszeniert und sie mit Schauspielern und Musikern eingespielt, nachzuhören auf dem Doppelalbum mit dem schönen Titel "Karajan steigt ins Taxi".
Die Rahmenhandlung: Der Erzähler, gesprochen von Igor Jussim, 1954 in Odessa geboren und im wirklichen Leben Komponist und Pianist, gratuliert seiner Enkelin Nadjinka zum 22. Geburtstag mit 44 Musikergeschichten. Weil er keine wertende Reihenfolge festlegen will, würfelt er den Anfangsbuchstaben des jeweiligen Komponisten oder Musikers. Schon deshalb geht es kunterbunt durcheinander, die Palette reicht von Nigel Kennedy über Rossini und Tschaikowsky hin zu Gershwin und Billie Holiday. Alle Protagonisten werden durch Igor Jussim kurz biografisch verortet, auch der Tenor Enrico Caruso, der wegen seines Lampenfiebers angeblich immer auf die Bühne geschoben werden musste, oder die Volkssängerin Bally Prell, die einen Urlaub an der Riviera kurzerhand abbrach, um daheim endlich wieder Leberkäs zu essen.
Das Hörbuch ist kurzweilig gestaltet, nichts wird überstrapaziert. Natürlich gefallen einem nicht alle Anekdoten gleich gut, aber das ist angesichts der Fülle des Angebots zu verschmerzen. Wunderbar ist die Geschichte von Johannes Brahms, der ein Werk seines österreichischen Kollegen Hugo Wolf mit Kreuzchen und Anmerkungen korrigieren soll und selbiges ablehnt: "Ich wollte aus Ihrer Komposition keinen Friedhof machen." Der so geschmähte Wolf rächt sich, in dem er als Musikkritiker Brahms' "auf der Folterbank gezeugte Produkte" oder seine "ekelhaft schalen verdrehten Symphonien" jahrelang unbarmherzig verreißt. Amüsant auch die beiden Damen, die über den toten Robert Schumann plaudern, sich genüsslich über die Untreue Claras austauschen und rätseln, warum Schumann mit seiner Syphilis Clara nicht ansteckte. Hinreißend der Dialog, in dem Constanze ihren müden Mozart um 5 Uhr früh zu überreden versucht, die Ouvertüre des "Don Giovanni" zu schreiben. Es eilt ein wenig, die Uraufführung ist schließlich noch am selben Abend.
Mag sein, dass demjenigen, der sich in der Welt der Musik auskennt, manche Anekdote ziemlich bekannt vorkommt. Andrerseits hat er sie vermutlich noch nie so witzig inszeniert gehört. Daran haben freilich auch Berlingers fantasievolle Musiker einen großen Anteil. Daher ist nicht auszuschließen, dass dem Hörbuch ein ähnlicher Erfolg beschieden ist wie dem Hörbuch-Vorgänger "Mei Fähr Lady", Berlingers Bairisch-Crashkurs, der auch als Theaterstück unglaublich erfolgreich war und allein im Regensburger Turmtheater mehr als 300 Mal aufgeführt wurde.
Was Karajan, der in Wien ins Taxi steigt und vom Fahrer gefragt wird, wohin er fahren soll, antwortet? "Egal wohin! Ich dirigiere überall!"
Karajan steigt ins Taxi ... 44 Musiker-Anekdoten. Von Bach und Beethoven bis Edith Piaf und Nigel Kennedy. Hin- und hergerichtet von Joseph Berlinger. TYXart. Infos: www.tyxart.de/txa21158_karajan-steigt-ins-taxi.html