SZenario:Die Kurve gekriegt

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Jan Ullrich vor seinem Auftritt beim Streaming Anbieter Amazon Prime. Der ehemalige Radsportprofi wirbt für die Doku über seine Karriere. (Foto: Christian Kolbert)

Der geläuterte Ex-Radprofi Jan Ullrich auf Werbetour für eine Doku über sein Leben.

Von Thomas Becker

Die Frisur ist noch die gleiche, das Gesicht ein wenig runder, aber hey: Im Dezember wird er 50, und angesichts dessen, was er in den vergangenen Jahren alles durchgemacht hat, sieht er echt okay aus. Lange nicht gesehen, aber doch gleich erkannt. Kunststück, der Mann war schließlich mal einer der erfolgreichsten deutschen Sportler, medial einst so präsent wie Boris, Steffi und Schumi, die anderen gewesenen Helden: Jan Ullrich, genannt Ulle. Unsicher wirkt er, als er auf dem Podium des Streaming-Anbieters Amazon Prime Video Platz nimmt und gleich zugibt: "Ich bin ein bisschen aufgeregt. Ich war schon lange nicht mehr auf einer Bühne." Dass er nun hier, in einem Nebenraum des Bayerischen Hofs, sitzt und über die Doku "Jan Ullrich - Der Gejagte" und sein irrlichterndes Leben spricht, ist schon ein Coup, nach all den wilden Jahren.

Es gab eine Zeit, da ging die halbe Nation mit ihm im Sommer auf Radltour durch Frankreich, kannte an Galibier und Tourmalet bald alle Spitzkehren mit Vornamen - und wendete sich nach dem Doping-Crash enttäuscht ab. Der Überflieger stürzte und fiel kilometertief, soff Whiskey wie Wasser, nahm Kokain dazu, "und ansonsten habe ich nur Scheiße gebaut", wie er sagt. "Ich hatte fast alles verloren, auch mein Leben. Mit letzter Kraft habe ich mich da raus gekämpft. Die große Aufgabe war dann: Du musst dein Leben ändern. Nicht nur den Alkohol und die Drogen weglassen. Sondern: Du musst mit deiner Vergangenheit zurechtkommen. Vorher hatte ich verdrängt, wollte es mit mir ausmachen, dachte ich bin stark genug, hatte keinen Gesprächspartner. Ich konnte meine Vergangenheit selbst nicht ertragen. Das war am Anfang unglaublich schwer. Es hat viele Tränen gegeben. Ich hatte Panik-Attacken: Kann ich das machen, kann ich das in die Öffentlichkeit tragen? Aber es war der richtige Weg. Jetzt habe ich den Rucksack abgehängt und Frieden mit meiner Vergangenheit gemacht."

"Ich habe mich so geschämt vor den Fans"

Sätze, die fast zu schön klingen, um wahr zu sein - und die ihn selbst überraschen: "Vor zwei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich in der Öffentlichkeit darüber reden kann." Nie habe er verkraftet, 2006 am Tag des Tour-de-France-Starts in Straßburg wegen Dopings von seinem Rennstall suspendiert worden zu sein: "Ich wollte im Boden versinken, habe mich so geschämt vor den Fans. Alle vier, fünf Jahre hatte es mich dann doch innerlich langsam zerfressen, dass die Bombe wieder irgendwo hochgegangen ist." Die drastischen Bilder von seinen fürchterlichen Abstürzen erspart einem die Doku nicht. Sie beginnt mit dem radelnden Protagonisten, der sich erstmal herzhaft die Nase freischnäuzt - Subtext: Hier wird nichts beschönigt. Schwer zu ertragen: wie unfassbar naiv er mit dem Thema Doping umging. Über den damals schon skandalumwitterten Dopingarzt Eufemiano Fuentes sagt er: "Ein sehr sympathischer Mann. Ich habe ihn nicht so oft getroffen, aber ich hatte irgendwie Vertrauen. Mir wurde gesagt, es sei sehr sicher."

Er muss nicht mehr an seine Grenzen gehen

Natürlich fragt man sich, wie er schließlich die Kurve gekriegt hat. Mit Freunden in der Heimat Merdingen kam er auf die Idee mit dem Jakobsweg: "In die Vergangenheit abtauchen, noch mal an die Orte gehen, die wichtig waren." Also auch dahin, wo es weh tut. Zum Beispiel nach Paris, wo jede Tour de France endet. 2022 jährte sich sein Tour-Sieg zum 25. Mal - eine Einladung habe er nicht bekommen, obwohl er mehrfach nachfragte. Die Antwort: Schweigen. Persona non grata. Ullrich sagt: "Das macht mich traurig. Ich habe Geschichte mitgeschrieben bei der Tour de France. Dass man da so runterfällt, ist schon enttäuschend." Musste aber sein, sozusagen als Teil der Katharsis: "Ich bin superfroh, dass ich es gemacht habe." Und nun? "Ich fahre wieder Rad, verbringe viel Zeit mit der Familie. Die Kinder fahren jetzt auch Radrennen - der einzige Sport, wo ich noch ein bissl gegen halten kann. Aber ich muss nicht mehr an Grenzen gehen, sondern suche jetzt den gesunden Mittelweg."

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