Musik zu Ostern:Ein Spiel der Trauer

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In der Isarphilharmonie versammeln sich die Scharen um Münchener Bach-Chor und Collegium Vocale Gent, um bei Bachs Matthäuspassion Trost zu suchen.

Von Paul Schäufele, München

Ja, freilich hätte Bach auch eine Oper komponiert, wenn sich die Gelegenheit geboten hätte. Doch der Thomaskantor hatte sich ans Sakrale zu halten, zum Beispiel an eine Matthäuspassion, die an Karfreitagen zuverlässig die Konzerthäuser füllt. In der Isarphilharmonie versammeln sich die Scharen um Münchener Bach-Chor und Collegium Vocale Gent, die bei allen greifbaren Unterschieden doch von derselben Prämisse ausgehen. Bachs Passion ist für sie, wenn nicht gleich eine Oper, so doch ein veritables Trauerspiel und erfordert eine durchdachte Dramaturgie. Hansjörg Albrecht und Philippe Herreweghe werden dem beide auf überzeugende Weise gerecht.

Doch wo Albrecht auf unmittelbaren Ausdruck und Vergegenwärtigung zielt, sucht Herreweghe den überlegten Kommentar - seine Passion ist mit behutsamer Neugier reflexiv abgefedert, erscheint als genau proportionierte Bildersequenz eines Passionsaltars. So singt das Collegium Vocale Gent die Choräle mit homogener Schönheit, jede Rauheit wird von Herreweghes flatternden Reibebewegungen abgeschmirgelt. Albrecht dagegen animiert seinen Chor vom Cembalo aus (stehend!) zu immer drastischerem Ausdruck, der auch die dynamischen Extreme nicht scheut. "Wenn ich einmal soll scheiden", hauchen die Münchner unmittelbar nach Christi Kreuzestod. Stichworte erhalten die Chöre von den ihnen gemäßen Evangelisten.

In puncto Solisten hat das belgische Ensemble vielleicht einen minimalen Vorsprung

Daniel Behle artikuliert so engagiert und dringlich, als stünde er selbst im Garten Gethsemane, während Reinoud van Mechelen die Geschichte mit wohldosierter, unwiderstehlicher Melancholie verliest: Neunundneunzig Mal habe ich's euch erzählt, und auch beim hundertsten wird es böse ausgehen. Sein warmer Tenor entspricht dem schlanken, flexiblen Ideal, das das flämische Originalklangensemble anstrebt. Man musiziert hier frei, fließend, lässt geschehen. Solche theatralisch wirksamen Effekte, wie sie das Münchner Ensemble punktgenau setzt, kommen hier nicht vor. Denn wenn es um Sünde, Tod und Teufel geht, lässt Albrecht die Bögen springen und die Saiten knallen. Zurückhaltend agiert er nur, wenn er seine Solisten begleitet, zum Beispiel den exzellenten Steve Davislim. Der versierte Operntenor lässt im ariosen "Oh Schmerz" echte Empörung hören.

Dennoch: In puncto Solisten hat das belgische Ensemble vielleicht einen minimalen Vorsprung, denn eine so begnadete Barock-Sopranistin wie Dorothee Mields findet man selten. An Innigkeit und Verkündigungsfreude bei unaufdringlicher Vokalpräzision kommen ihr wenige gleich. Wenn sie mit leisem Lächeln "Ich will dir mein Herze schenken" trällert, kommt man nicht umhin, sich auch selbst angesprochen zu fühlen. Der Countertenor Tim Mead ist ihr ebenbürtig, sein "Erbarme dich", plastisch durchgeformt und zerknirscht ausgeführt, ist einer der Höhepunkte der Genter Matthäuspassion.

Es ist, als sollte mit diesen Aufführungen Walter Benjamins klassischer Text zur barocken Tragödie mit neuem Leben gefüllt werden, denn Bachs Matthäuspassion wird durch diese eminenten Musizierenden zum musikalischen Trauerspiel. Das heißt: Ein Trauer-Spiel, ein Spiel der Trauer und ein Spiel vor Traurigen, die sich in bejammernswerten Zeiten, in den Trümmern ihrer Welt stehend, an die Bühnenkünste wenden, um Sinn zu sehen. In jedem Fall aber stehen sie in den Reihen der Isarphilharmonie, um zwei packenden Sichtweisen aufs Bach'sche Passionswerk zu applaudieren.

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