Schwerkraft ist was Tückisches. Hat schon so manchen Traum zum Einstürzen gebracht. Nicole und ihr Cousin Patrick Mittmann aus dem schwäbischen Dörfchen Sulz am Eck können davon beinahe ein Lied singen. Die Deutschen Bäckermeister von 2018 waren im Jahr darauf Vize-Weltmeister geworden und lagen auch nun wieder auf Medaillenkurs. Alle Pflichtaufgaben vorbildlich erfüllt, zum Anbeißen lecker sah alles aus, und auch die Kür, das sogenannte Schmuckstück, konnte sich sehen lassen: ein Kunstwerk, ein Bienenstock mit 5-vor-12-CO₂-Uhr, passend zum vorgegebenen Thema "Welt der Tiere". Sieben atemlose Stunden hatten sie an all dem gearbeitet, die Prüfer überzeugt, waren mit Platz drei ausgezeichnet worden - als kurz darauf die fragile Konstruktion mit Getöse in sich zusammenbrach. Schade, aber letztlich egal: Bronze hatten die beiden sicher.
Tags darauf standen die Mittmanns auf der anderen Seite, als Juroren bei der Deutschen Meisterschaft, und auch da sollte auf der Zielgeraden die Schwerkraft eine Rolle spielen. Doch dazu später mehr.
Fünf Tage lang hat sich die Bäckerbranche auf der Riemer Messe zur iba, der Leitmesse für Bäckerei, Konditorei und Snacks, getroffen, um sich über Trends auszutauschen und Innovationen zu entdecken. Brotsommeliers und Brotprüfer berichten über die Lage der Branche. Es geht um Dosiersteuerung, Gärraumüberwachung und Rezeptverwaltung. Wer als Laie durch die Hallen schlendert und all die riesigen Maschinen sieht, die wie Perpetuum mobiles Teigkugeln ausspucken, der wartet nur noch darauf, dass wie in "Modern Times" Charlie Chaplin raus gespült wird und einen verdutzt anschaut. Wird er aber nicht.
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Warteschlangen bilden sich an Pizza-Backöfen und "Hamburger in 2 Minuten"-Maschinen, ob zu Fachfragen oder wegen Hungers ist nicht zu ermitteln. Gekaut wird überall: eine Fischsemmel hier, ein Croissant da - verhungern muss hier keiner. Apropos: Alles was tagsüber an Backwerk produziert und nicht von den Besuchern verzehrt wird, wird gesammelt und kommt Bedürftigen zugute. Wäre auch schade drum.
In Halle A4 messen sich die weltbesten Bäcker
Kein Experte muss man sein, um die Wettbewerbe in Halle A4 zu verfolgen. Hier messen sich die weltbesten Bäcker in der Disziplin "Essbare Meisterwerke unter Zeitdruck erschaffen". Am einen Tag ist Weltmeisterschaft, am nächsten Tag geht's um den deutschen Meistertitel, zum fünften Mal schon. Ausrichter ist der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks, die Interessenvertretung von mehr als 9600 Betrieben mit knapp 240 000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 16 Milliarden Euro in Bäckereien und Konditoreien.
Auch Nachwuchsförderung ist ein zentraler Punkt. Mit Initiativen wie "Bäckman" oder "Back dir deine Zukunft" werden Kinder und Jugendliche auf den Bäckerberuf aufmerksam gemacht. Bei Johanna Lenhardt war das nicht nötig. Die 27-Jährige aus Oberelsbach in Unterfranken ist Bäckermeisterin in der vierten Generation - trotz Mehl-Allergie. Immer wenn sie ihrer Arbeit nachgeht, muss sie Maske tragen. Da muss jemand sein Handwerk wirklich lieben.
Mit Lea Wagner aus Aschfeld im Landkreis Main-Spessart bildet sie das Duo "Bread Artists". Die beiden kennen sich von der Meisterschule in Weinheim, haben sich bei Vor-Wettkämpfen in Olpe und Lochham für die Deutsche Meisterschaft qualifiziert und backen nun mit drei Männer-Duos aus Niedersachsen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen um die nationale Bäckerkrone.
In sieben Stunden müssen sie Brote, Kleingebäcke, Plunderstücke und ein gebackenes Schaustück fabrizieren, Letzteres zum Thema "Gemeinschaft". Wie passend, dass nicht nur die dritte Generation der Bäckerei Lenhardt, Mutter Ute und Vater Joachim, zum Daumendrücken den 350 Kilometer weiten Weg gekommen sind, sondern auch Schwester Corry, Freund Markus und eine Handvoll Verkäuferinnen, alle in selbst designten Unterstützer-T-Shirts: "Aus Liebe zum Handwerk! Ihr backt das schon!" Auf einem anderen Fan-Shirt der 1938 gegründeten Bäckerei steht: "Ja sogar die Sonne lacht, wenn der Lenhardt Zwibbelsploatz backt". Gemeint ist Zwiebelkuchen.
Heute stehen andere Leckereien auf dem Dienstplan. Zwischen acht und 15 Uhr gilt es ein Sauerteigbrot zu backen, dazu Hefe- und Kleingebäck, also Semmeln. Gewertet werden Geschmack, Aussehen, Menge, Effektivität, aber auch öffentliche Erscheinung und Hygiene in der Backstube.
Am Abend zuvor waren eineinhalb Stunden Vorbereitung erlaubt (Sauerteig ansetzen!), bevor es am nächsten Morgen losgeht, der Ablauf per Excel-Tabelle generalstabsmäßig geplant: Plunder tourieren, Brot aufmachen - böhmische Dörfer für Laien. Der schöne Plan ist bald hinüber, weil eine der vom Verband gestellten Maschinen ausfällt; auch der Ofen backt anders als der daheim, was einmal zu einer arg schwarzen Kruste führt. Egal, weiter!
Um 13 Uhr müssen Plunder, Blätterteig und Kleingebäck für die erste Produktbewertung fertig sein. Zehn Jurymitglieder der Bäckernationalmannschaft, zu erkennen am schwarzrotgoldenen Hemdkragen, checken Textur, Krustenrösche und Porung, tasten, drücken, riechen, pulen - und beißen endlich hinein. Jochen Baier, der Welt-Bäcker von 2018, meint: "In der Krume schmeckt das reine Aroma."
Während Tochter Johanna wirbelt, hat Papa Joachim Zeit aus dem Nähkästchen zu plaudern. Eine schwierige Zeit sei es gerade: Personalmangel und die qualitätsmäßig heranrückenden Filialisten mit ihren eingeschweißten Semmeln zum Aufbacken machen ihm zu schaffen: "Wir haben eine treue Kundschaft, aber wir merken das schon."
Derweil entsteht vor seinen Augen eine Focaccia mit Kürbis, Zwiebel und Feta, nebenan wird mit Kakaofarbe das Logo der "Bread Artists" auf ein riesiges Brot gepinselt. Lea Wagner hat sich von RTL überreden lassen und eine Webcam vor die Brust geschnallt, damit man jeden Handgriff verfolgen kann. Die Zeit drängt jetzt. Als alles fertig ist, sind beide noch nicht am Ende: Innerhalb von 30 Minuten muss nun das gesammelte Backwerk kunstvoll auf einem Tisch drapiert werden.
Und da passiert es: Zwei Tische rumpeln gegeneinander, die Erschütterung lässt die oberste Etage des prachtvollen bayerischen Schmuckstücks umkippen. Krisen-Modus! Flugs wird gerettet, was zu retten ist, und siehe da: Es langt. Team Bayern holt den Titel! "Wir sind überwältigt", jubelt Lea Wagner, als die Sprachlosigkeit nachlässt, "wir haben so viel Fleiß, Energie und Leidenschaft in diesen Wettkampf gesteckt und sind stolz, dass wir den Pokal nach Hause bringen." Und Johanna Lenhardt, die Junior-Chefin mit der Mehl-Allergie, sagt: "Wir lieben und leben unser Handwerk und wollen mit diesem Preis viele junge Menschen für diesen Beruf begeistern."
Als Sieger gehört das Duo nun zur Bäckernationalmannschaft und darf bei der nächsten WM mitbacken. Die gewann diesmal das Team aus China, von dem die Mär geht, dass es zwei Jahre nonstop für den Wettkampf trainiert hat. So was ist in Bayern nicht drin: Da klingelt morgens um halb drei der Wecker.
