Es scheint ein unbeschwerter Sonnentag im Strandcafé Lido in Seeshaupt am Starnberger See zu sein. Stephen Nasser sitzt auf der Terrasse, unterhält sich mit seiner Frau, hin und wieder grinst er, der Wind spielt sanft mit seinen weißen Haaren. Erst als der 80-Jährige einen Kugelschreiber nimmt, ihn mühsam zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmt und sehr langsam Buchstabe für Buchstabe aufschreibt, wird deutlich, dass Nassers Leben nicht immer so unbeschwert gewesen ist wie an diesem Sonnentag. Seine rechte Hand wurde vor 66 Jahren von einem SS-Mann zertrümmert, als er im KZ-Außenlager Mühldorf völlig entkräftet bei der Arbeit zusammenbrach.
Stephen Nasser hat erst nach mehr als einem halben Jahrhundert sein Buch veröffentlicht: Er musste ein schreckliches Geheimnis vor seinem Onkel verbergen.
(Foto: oh)Stephen Nasser lebt seit 1958 in den USA. Doch nun ist er von Las Vegas dorthin zurückgekehrt, wo er die schlimmste Zeit seines Lebens verbrachte: nach Mühldorf, Seeshaupt und München. In bayerischen Orten stellt er in diesen Tagen sein Buch Die Stimme meines Bruders vor, das im März auf Deutsch erschienen ist. Darin erzählt Nasser die Geschichte eines ungarischen Jungen, der den Holocaust überlebte. Der ungarische Junge ist Stephen Nasser, es ist seine Geschichte.
Im Mai 1944 wird der 13-jährige Nasser, den alle Pista rufen, wie viele andere ungarische Juden von Budapest nach Auschwitz deportiert. Seine Mutter sieht er am Eingang des KZ zum letzten Mal, sein Vater war ein Jahr zuvor an einer Lebererkrankung gestorben. Mit seinem älteren Bruder Andris kam Pista nach ein paar Tagen in das KZ-Außenlager Mühldorf am Inn. Dort müssen die Häftlinge eine unterirdische Rüstungsfabrik bauen, Tausende sterben. An Unterernährung, Typhus oder Erschöpfung. Die beiden Brüder machen sich gegenseitig Mut, halten zusammen, teilen das wenige Essen. Doch kurz vor Ende des Krieges hat Andris keine Kraft mehr, völlig abgemagert stirbt er in Pistas Armen.
Als die Alliierten Ende April 1945 Mühldorf erreichen, werden die Häftlinge von den Nazis weggebracht. Tagelang irrt der Zug durch Oberbayern, er wird irrtümlicherweise von den Alliierten aus der Luft beschossen. Als die Häftlinge in Seeshaupt schließlich befreit werden, ist der völlig entkräftete Pista der einzige Überlebende in dem Waggon. Auch er wurde von einer Kugel getroffen. Nasser ist inzwischen vor der Sonne ins Innere des Café Lido geflohen. Er zieht seine beige Leinenhose ein wenig hoch. Die Narbe ist noch heute auf seinem linken Knie zu sehen.
Die Albträume dagegen, die ihn jahrelang schreiend aus dem Schlaf hochschrecken ließen, ist Nasser inzwischen losgeworden. Er träumte oft von seinem Bruder Andris und seiner Mutter, aber auch immer wieder davon, dass er fliegen könne. Er hob ab aus dem KZ, doch er kann nur langsam Höhe gewinnen, die Nazis versuchten, nach ihm zu greifen, ihn zu fassen. In diesem Moment wachte er jedes Mal auf.
Zum Strandcafé in Seeshaupt hat Nasser eine Videokamera mitgebracht, er filmt die Orte und Menschen, denen er begegnet. Es wirkt so, als wolle er für immer festhalten, dass das Geschehen im Jahr 2011 nichts mehr mit den schrecklichen Erlebnissen von damals gemein hat.
Das Tagebuch als Waffe
Nassers Buch ist geschrieben aus der Sicht eines 13-Jährigen. Sehr persönlich, ehrlich, schonungslos, furchtbar und manchmal für einen kurzen Moment inmitten all des Grauens komisch. In einer Szene beschreibt Nasser, wie er und sein Bruder in Häftlingskleidung in der Sonne saßen. "Wir müssen ausgesehen haben wie zwei Zebras, die sich bräunen."
Im Konzentrationslager begann Pista, Tagebuch zu führen. Auf Zementsäcken ritzte er zunächst Satz für Satz mit einem geschmuggelten Messer ein, später erschlich er sich einen Bleistift.
Nasser erzählt, wie sein Bruder Andris immer zu ihm sagte: "Pista, dein Tagebuch ist deine Waffe. Es ist deine innere Kraft, damit wirst du überleben." Andris wollte, dass er das Tagebuch nach dem Krieg veröffentlicht. "Versprich mir, den Menschen zu erklären, was unserer Familie passiert ist." Nasser hat das Versprechen gehalten.
Im Zug in Seeshaupt fiel das Tagebuch dem fast verhungerten Pista aus der Hand, er war zu schwach, um es wieder aufzuheben. Es tauchte nie wieder auf. Als der Junge nach der Befreiung in ein Krankenhaus in Seeshaupt kam, begann er sogleich wieder, das Geschehen zu notieren.