TSV 1860 München:"Servus Stehhalle, jemand zu Hause?"

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In seinem Element: Stefan Schneider bei einem Heimspiel des TSV 1860 München im Stadion an der Grünwalder Straße. (Foto: Stefan Matzke/sampics)

Stefan Schneider ist seit 25 Jahren Stadionsprecher des TSV 1860 München - mit dem Umzug nach Giesing hat sich für ihn einiges geändert.

Von Markus Schäflein

Es kommt selten vor, dass Stefan Schneider nicht weiß, was er sagen soll. Aber vor eineinhalb Jahren, am 30. Mai 2017 um kurz nach 20 Uhr in der Arena in Fröttmaning, ist ihm das passiert: "An so einem Abend ist alles, was du sagst, falsch." Der TSV 1860 München war nach einem 0:2 in der Relegation gegen Jahn Regensburg aus der zweiten Fußball-Bundesliga abgestiegen. Schneider, der Stadionsprecher, sprach nicht mehr. Er ließ das Stadion in Ruhe: "Es gibt auch Momente, wo es wichtig ist, zu schweigen. Die Menschen waren komplett bedient. Ich saß ja selber da und habe erst mal nur vor mich hingestarrt."

Zuvor hatte Schneider alle Hände voll zu tun gehabt, er hatte aufgebrachte Anhänger beruhigen müssen, die Sitzschalen und Plastikstangen aufs Feld warfen. "Ich hab' zum Biero (Trainer Daniel Bierofka, d. Red.) gesagt: Red' du mit ihnen, wenn eine Schale kommt, ich hab' sie sicher." Was Schneider noch nicht wusste, nur ahnte: Der Abend des bizarren Untergangs war sein letzter Auftritt in der Arena.

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Gerade wurde das Stadion der Sechzger in Giesing auf 15 000 Plätze erweitert. Es ist nicht nur die optimale Bühne für die Dramen dieses Fußballvereins, sondern ein Segen für die Stadt.

Von Sebastian Beck

Der TSV 1860 stürzte mangels Drittligalizenz bis in die Regionalliga ab, er beendete den Mietvertrag mit dem FC Bayern und ging zurück ins Stadion an der Grünwalder Straße in Giesing, stieg dort in die dritte Spielklasse auf. Schneiders Job ist anders geworden, die Zuschauer stehen so nah am Spielfeld, dass er 14 Minuten vor Anpfiff den Obststandl-Didi per Handschlag begrüßen kann, die Lautsprecheranlage fällt immer mal wieder aus, Schneider steht bei Wind und Wetter ohne Überdachung da. "Wenn du es echt und ursprünglich magst, musst du auch das mögen", sagt er, "wie bei einem Oldtimer".

Schneider hat auch keinen Bildschirm mehr, auf dem er ablesen kann, wie viele Sekunden er noch bis zum nächsten Auftritt hat. Stattdessen gibt ihm die Stadionregie jetzt auf den Kopfhörer: "Noch 50 Sekunden bis Hacker Pschorr!" Jenny und Jessy sind da, die für die eiskalten Temperaturen beim Heimspiel gegen Jena viel zu leicht bekleideten Werbemädchen des Biersponsors. "Wenn ich dich sehe, wird mir warm ums Herz", sagt die Jessy zu Schneider. Dann schießt sie mit einer Plastikkanone Geschenke auf die Ränge. Ein bisschen Kommerz gibt es auch im Grünwalder noch, aber nur ein bisschen.

Es ist ein ganz anderes Stadion, in dem Schneider nun spricht, nach über 25 Jahren im Amt und über einem Jahrzehnt in der Arena, in der sich auf 70 000 Sitzschalen oft nur 15 000 Menschen verloren. Nun kommen auch 15 000, aber dann ist ausverkauft. Immer. "Das ist natürlich fein für uns", sagt Schneider. "Es ist voll, und es ist für den Fan, der da drin steht, was Besonderes, dass er da ist. Das gab es ja vorher bei Sechzig nicht, dass es keine Tickets gab." Dieses Besondere spürt Schneider, wenn er unten auf dem Rasen vor den Menschen steht. In der Arena hatte er dieses Gefühl seltener, aber auch ab und zu, etwa bei der erfolgreichen Relegation 2015 gegen Holstein Kiel. "Wenn die Bude voll war, hatte das auch was", sagt er. "Wir haben dort ja auch große Spiele gehabt."

"Münchens große Liebe"

Die Frage, wo der TSV 1860 spielen soll, ob er in Giesing bleiben soll und dort eine Zukunft haben kann, ist ein großes Politikum in dem Klub. Deshalb ist Schneider vorsichtig, wenn er Vergleiche zieht: "Ich war noch nie ein Fan von irgendeinem Stadion, ich würde auch zu den Sechzigern gehen, wenn sie im Circus Krone spielen." Dann sagt er doch: "Ich bin Schwabinger, kein Giesinger. Aber es war die einzig richtige Entscheidung, nach Hause zu gehen. Wenn du krank bist, wirst du am schnellsten daheim gesund."

Beim ersten Spiel in Giesing fragte er, ohne groß über seine Wortwahl nachzudenken: "Servus Stehhalle, jemand zu Hause?" Die zweite Ebene der Floskel sei in dem Moment "gar nicht beabsichtigt" gewesen, versichert Schneider. "Seitdem wollen die Fans, dass ich das immer frage, mittlerweile gibt es sogar T-Shirts mit dem Spruch." So wie es Aufkleber und andere Merchandising-Artikel mit dem Slogan "Münchens große Liebe" gibt, der Schneider mal im Olympiastadion in den Sinn kam, als die Mannschaft zum Warmmachen aufs Feld lief.

Die Aussage des ehemaligen Trainers Vitor Pereira, man werde "to the top" gehen, wertete Schneider als prophetisch: "Ich dachte mir, vielleicht hat der den Giesinger Berg gemeint." Und diesen Witz wollte er dem Publikum nicht vorenthalten. Er sei aber, das betont er noch mal, in der Stadionfrage ganz neutral. Wie es jetzt weitergehe, wisse man ohnehin nicht: "Vielleicht sagen wir in fünf Jahren: Mei, kannst dich noch erinnern, damals im Grünwalder?"

"Ich bin fürs Jubeln zuständig"

Schneider, 56 Jahre, Mitgliedsnummer 1860, Größe laut Personalausweis 1,86 Meter, wird jedenfalls dabei bleiben, egal wo es hingeht. Auch, wenn es noch einmal in die Regionalliga gehen sollte. Er liebt ja nicht nur Sechzig, er liebt es auch, Stadionsprecher zu sein. "Ich habe irgendwann gemerkt, dass es scheißegal ist, ob du gegen Hoffenheim, Sandhausen oder Memmingen führst", sagt er. "Die letzten eineinhalb Jahre sind schon die schönen Jahre. Wenn du mal was gewinnst, ist das nicht so uncharmant, dann geht der Job weitaus leichter von der Hand."

Den Wandel ist Schneider gewohnt, er moderiert ihn ja. Er ist auch Hallensprecher beim Münchner Eishockey, seit 1990, er hat alle Ligen, Insolvenzen und Namenswechsel mitgemacht: bei Hedos, bei den Mad Dogs, beim ESC, bei den Barons, beim EHC und jetzt bei Red Bull. Beim Eishockey hat er gelernt, dass es immer irgendwie weitergeht. Er glaubt fest daran, dass es auch bei Sechzig immer weitergeht, und dass er immer dabei sein wird.

Es ist 13.02 Uhr, Jenny und Jessy haben sich mittlerweile Wintermäntel übergezogen und gehen nach Hause. Schneider sagt zu den Jena-Fans: "Wir dürfen Sie ganz herzlich bitten, das Abbrennen von Feuerwerkskörpern einzustellen." Sechzig wird danach 1:3 verlieren und steht im Mittelfeld der dritten Liga. Ob das Präsidium richtig handelt, wenn es keine Darlehen des Investors Hasan Ismaik mehr annimmt? Ob der Verein in Giesing eine Zukunft im Profifußball haben kann? Ob der Klub in der kommenden Saison sparen muss, ob er seine U21 abmelden soll? Davon will Schneider nichts wissen, er hält sich aus der Politik heraus. Anders ist es bei Sechzig auch nicht möglich, 25 Jahre seinen Job zu behalten. Schneider findet: "Ich bin fürs Jubeln zuständig. Und je weniger ich weiß, desto besser kann ich jubeln."

© SZ vom 29.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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