SZ-Adventskalender:Erst bricht der Körper, dann die Seele

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Weil ihr von der Rente nur das Existenzminimum bleibt, kann sich die 55-Jährige nicht einmal Winterkleidung oder ein neues Bettlaken leisten. (Foto: Gudrun Senger/imago/photothek)

Nach einer psychischen Erkrankung bleibt einer Frau aus Fürstenfeldbruck so gut wie nichts. Von ihrer geringen Rente muss sie den Unterhalt für ihre Kinder zahlen.

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Es gibt Schicksale, in denen eine solch tiefe Tragik liegt, dass sie nur schwer zu fassen sind. Von denen man sich, bevor man sie gehört hat, nicht vorstellen konnte, dass sie überhaupt passieren können. Und bei denen man den Betroffenen nicht genug Respekt dafür zollen kann, dass sie ihre Geschichte teilen. Das Leben von Claudia S. ist ein solches Schicksal.

Lange läuft es in ihrem Leben gut, sie hat einen Mann, zwei Kinder, einen erfüllenden und gut bezahlten Job, Freunde. Bis im Jahr 2018 erst ihr Körper und dann ihre Seele zerbricht - und damit ihr bisheriges Leben. Es beginnt mit einem Herzinfarkt. Dann kommt es in der Beziehung zu "unüberbrückbaren Problemen", wie sie sagt. Konkreter möchte sie es nicht ausführen. Es folgt die Trennung. Und danach beginnen die Probleme, die ihr bis heute ein normales Leben unmöglich machen.

Wohl ausgelöst durch das, was sie in dieser Zeit erlebt hat, erkrankt sie an einer schizoaffektiven Störung, einer Kombination aus Psychose und Stimmungsschwankungen. Es ist eine chronische psychische Erkrankung, die die 55-Jährige voraussichtlich ihr ganzes Leben lang begleiten wird. Als die Störung ausbricht, sind die Symptome so heftig, dass S. ein Jahr in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden muss.

Nachdem sie wieder so stabil ist, dass sie entlassen werden kann, ist von ihrem alten Leben nichts übrig. "Wenn du im Business bist, bist du die Größte. Nach dem Herzinfarkt waren alle noch lieb zu mir. Aber als die psychische Erkrankung kam, haben sich alle abgewandt". Nur ein Freund von damals sei noch übrig. S. spricht selbst von einem "alten" und einem "neuen" Leben.

Und die Sorgen, mit denen sie in dieses "neue Leben" startet, gehen weit über die psychische Belastung hinaus. Denn ihr "Neustart" ist kein Neuanfang unter erschwerten Bedingungen, er legt einen unüberwindbaren Fehler im System frei.

Weil der Vater das Sorgerecht hat, muss sie von ihrer Rente Unterhalt zahlen

Als sie in die Klinik kommt, ziehen die Kinder zum Vater. Nach ihrer Entlassung wollen - und sollen - sie dort bleiben. Weil S. nicht mehr arbeiten kann, bekommt sie eine überschaubare Erwerbsminderungsrente: Etwa 1300 Euro netto, von denen der Großteil für die Miete draufgeht. Da das Sorgerecht beim Vater liegt und die Kinder bei ihm leben, ist S. unterhaltspflichtig - obwohl ihr Ex-Mann einen sehr gut bezahlten Job hat. Der 55-Jährigen, die in einer therapeutischen Wohngruppe lebt, bleibt deshalb nicht mehr als das gesetzliche Existenzminimum von knapp mehr als 500 Euro. Ihre letzten Ersparnisse gingen in die Storm- und Heizungsnachzahlung, seitdem sei ihr Konto im Minus.

Bei welcher Anschaffung der SZ-Adventskalender für Gute Werke sie unterstützen könne? "Neue Bettwäsche wäre schön, meine alte schimmelt, und ich kann mir aktuell keine leisten. Oder vielleicht eine Winterjacke oder neue Schuhe. Und es macht mich traurig, dass ich meinen Kindern dieses Jahr wohl nichts zu Weihnachten schenken kann", antwortet die 55-Jährige, "aber natürlich nicht alles auf einmal, das ist ja sehr viel". Ob es noch etwas gibt, was sie dringend benötigt? "Eine aufblasbare Matratze wäre ein Traum. Wenn mein Sohn mich besucht, schlafe ich aktuell auf einer Yogamatte auf dem Boden, damit er das Bett haben kann."

S. erzählt ihre Geschichte ohne Wut oder Vorwürfe. Nicht gegen ihren Mann, nicht gegen das System, das in Fällen wie ihrem versagt, nicht gegen ihre ehemaligen Freunde, die keinen Kontakt mehr mit ihr wollen. Ruhig und reflektiert erzählt sie von ihrer Situation. Nur die große Verzweiflung, die ihr ständiger Begleiter ist, liegt in jedem ihrer Sätze. Ob sie durch das, was sie erlebt hat, ihren Blick auf die Menschen verändert hat? "Ja, ich wähle jetzt viel sorgsamer aus, mit wem ich mich umgebe. Ich bin ein Mensch, der viel zu geben hat. Ich kümmere mich beispielsweise um Obdachlose, spreche mit ihnen. Ich rede viel mit den Menschen, mit denen sonst keiner mehr redet." An oberster Stelle aber stehen ihre beiden Söhne, zwölf und 16 Jahre alt. "Meine Kinder sind das, was mich am Leben erhält. Ich bin mit Leib und Seele Mutter."

In ihrer Therapie gehe es aber auch darum, sich selbst wieder einen Wert zuzuschreiben. "Man versucht in der Selbstfürsorge eine Stütze zu finden, gut zu sich selbst zu sein. Quasi eine gute Mutter für sich zu sein und auch das innere Kind wiederzuentdecken", erzählt die 55-Jährige. Durch die psychologische Betreuung lässt sich ihre Situation zwar stabilisieren, dennoch muss sie jederzeit mit Panikattacken rechnen, die durch ihre Krankheit ausgelöst werden. "Diese Angst vor der Angst ist ganz schlimm. Genau wie der Kontrollverlust, der damit einhergeht. Es kann passieren, dass ich beim Einkaufen bin und eine Attacke bekomme. Dann muss ich mich hinsetzen, fange an zu zittern, mir wird schwindelig. Es ist eine Spirale, aus der man nicht mehr rauskommt."

"Ich war mir sicher, dass mir das nie passieren könnte"

Eine Stütze auf dem Weg zurück in ein einigermaßen geregeltes Leben ist für S. die Tagesstätte Rückenwind der Caritas in Fürstenfeldbruck. Etwa dreimal pro Woche besuche sie die Einrichtung für einige Stunden. Dort können Menschen mit "Psychatrieerfahrung" niederschwellig verschiedene Angebote wahrnehmen, wie beispielsweise gemeinsames Singen, Kochen und Sport. Daran, wieder arbeiten zu gehen, und sei es nur für einige Stunden in der Woche, könne sie aktuell durch ihre Erkrankung nicht denken. "Und selbst wenn, müsste ich alles für den Unterhalt abgeben." Dennoch sei es ihr großes Ziel, sich irgendwann finanziell wieder zu stabilisieren. Wie das in ihrer Situation funktionieren soll? "Irgendwie muss ich noch asketischer leben", antwortet die 55-Jährige.

Für die Gesellschaft wünscht sie sich, dass psychische Erkrankungen endlich als genauso normal verstanden werden wie körperliche. Auch deshalb, weil es jeden jederzeit treffen könne, sagt S., die auch als medizinische Fachangestellte gearbeitet hat. "Damals habe ich viel mit Menschen mit psychischen Krankheiten zu tun gehabt und war mir sicher, dass mir das nie passieren könnte. Ich war ausgeglichen, hatte ein schönes Leben, alles hat gestimmt. Und dann ist es plötzlich doch passiert."

So können Sie spenden

Überweisungen sind auf folgendes Konto möglich: "Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung e.V.", Stadtsparkasse München, IBAN: DE86 7015 0000 0000 6007 00, BIC: SSKMDEMM

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