Theaterkritik:Ein Blick in den Abgrund

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Sweet Home: Max (Tim Freudensprung im roten Bademantel) hat einen Kater, sein Lebensgefährte Rudi (Hagen Ullmann) kümmert sich um die Pflanzen. (Foto: Günther Reger)

Mit dem Theaterstück "Rosa Winkel" erinnert die Neue Bühne Bruck eindringlich an das Schicksal Homosexueller unter der Nazi-Diktatur.

Von Andreas Ostermeier, Fürstenfeldbruck

Martin Shermans Theaterstück "Rosa Winkel" ist eine Reise in den Abgrund. In diesen Abgrund stürzt Max, ein junger Homosexueller, der in den frühen Dreißigerjahren in Berlin lebt. Er wird, weil er Männer liebt, ins KZ gesperrt und muss sinnlose Zwangsarbeit leisten.

Auch den Abgrund in sich selbst lernt Max (Tim Freudensprung) auf dem Weg vom bürgerlichen Leben ins KZ kennen, denn um sich zu retten, hilft er den SS-Schergen, seinen Lebensgefährten zu töten. Unvorstellbare Grausamkeiten muss der junge Mann miterleben oder selbst erdulden. Dazu kommt das stumpfsinnige Steineschleppen, mit dem er in den Wahnsinn getrieben werden soll. Max erkennt dies, entgehen kann er dem Wahnsinn nicht.

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Vorlage für einen Film

Das Stück wurde Ende der Siebzigerjahre veröffentlicht und erlebte viele Aufführungen. Auch diente es als Vorlage für einen Film. Am Samstag feierte es in der Neuen Bühne Bruck Premiere. Hintergrund des Stücks ist die Verfolgung der Homosexuellen durch das nationalsozialistische Regime. Neben Juden, politischen Widersachern, Kriminellen oder religiös Verfolgten wurden auch Homosexuelle in Konzentrationslager gesperrt, misshandelt und ermordet. Um sie zu kennzeichnen, bekamen sie einen rosa Winkel auf den Häftlingsanzug genäht - daher stammt der deutsche Titel des Stücks.

Max, der hört, dass Homosexuelle am schlechtesten behandelt werden, bemüht sich deshalb, den gelben Judenstern tragen zu können. Er glaubt, sich auf diese Weise einen Vorteil verschaffen zu können. Doch um den gelben Stern zu erhalten, muss er beweisen, nicht schwul zu sein. Deshalb versetzt er seinem Lebensgefährten Rudi, der von der SS zusammengeschlagen wird, mehrere Tritte in den Bauch, so dass Rudi (Hagen Ullmann) stirbt.

In auswegloser Lage

Die "kleinen Geschäfte", die Max macht, um sich oder anderen einen Vorteil zu verschaffen, gehen alle schief. Rudi ist nicht das einzige Opfer. Den Sturz in den Abgrund kann der junge Mann nicht aufhalten. Es dauert lange, bis er das versteht. Was er dann tut, das kann man als wahnsinnig bezeichnen. Aber ist es wohl das Gegenteil: Einsicht in die Ausweglosigkeit seiner Lage.

Das Ende des normalen Lebens

Regisseur Ralph Hüttig führt in seiner Inszenierung des Stücks den Absturz von Max deutlich vor Augen. Zu Beginn erklingt ein schmalziger Schlager aus den Dreißigerjahren, Max und Rudi sind ein Paar, wie es viele gibt, sie zanken und versöhnen sich, haben Geldprobleme und Angst vor dem Vermieter. Lediglich das schief hängende Bild an der Wand könnte als Andeutung verstanden werden, dass das normale Leben der beiden bald zerstört werden wird.

Grau und trist ist die Bühne dagegen im zweiten Teil. Keine Farben mehr, keine Blumen, nur zwei Haufen von Steinen gibt es im KZ, wo Max und Horst (Joachim Aßfalg) nun eingesperrt sind. Ihre tägliche Arbeit besteht darin, die Steine von einem Haufen zum anderen zu tragen.

Liebesakt aus Worten

Im Gegensatz zu Max trägt Horst den rosa Winkel. Er verleugnet sich nicht. Die beiden freunden sich an und versuchen, durch das Sprechen während der Arbeit einen Rest von Menschlichkeit zu bewahren. Auch ihr sexuelles Verlangen können sie nur mit Worten stillen, berühren dürfen sie sich nicht, das würden die Wachen gleich mitkriegen. Also bringen sie sich mit Worten gegenseitig zum Orgasmus.

Dieser Liebesakt aus Worten ist die größtmögliche Auflehnung von Max und Horst. Aßfalg und Freudensprung spielen dies mit großer Präsenz und Überzeugungskraft. So nah beieinander und gleichzeitig bei sich sind die beiden Häftlinge in keiner anderen Szene. Aßfalg spielt einen Horst, der sich nichts vormacht und deswegen abgeschlossen hat mit dem Leben. Freudensprung dagegen ist ein Max, der bis zuletzt an einen Ausweg glaubt.

Die Aufführung in Fürstenfeldbruck, die angesichts von Terrorismus, Brandanschlägen und Hasskommentaren im Internet aktuell ist, wurde vom Publikum im vollbesetzten Theater mit viel Beifall aufgenommen.

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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