Fürstenfeldbruck:"Ich glaube an die Menschen"

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Die Hälfte des Jahres ist Abba Naor in Schulen unterwegs, um mit seiner Lebensgeschichte ein Zeichen zu setzen gegen den Antisemitismus. Am Freitag besucht er die Fos/Bos in Fürstenfeldbruck. (Foto: Günther Reger)

Seine Brüder und die Mutter wurden von den Nazis umgebracht. Und doch verspürt Abba Naor keinen Hass. Der Zeitzeuge berührt die Fachoberschüler mit seiner Lebensgeschichte.

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Es ist kurz nach zwölf Uhr am Freitag, als Abba Naor dann doch mit den Tränen ringt. Als er kurz innehält, schweigend auf sein Buch und den aufgeklappten Laptop herunterschaut. Als er ganz für sich ist. Aber es dauert nur einen Moment, dann hat er seine Fassung wiedergewonnen. Dann ist er wieder zurück auf seiner Mission als Botschafter und Mahner, vor allem aber ganz einfach als jemand, der aus seinem Leben erzählt. Und von seiner Kindheit, die keine Kindheit war, sondern täglicher Überlebenskampf. Der 94 Jahre alte Überlebende der Shoa lebt etwa die Hälfte des Jahres in Israel. Die andere Hälfte besucht er Schulen in Deutschland. Unermüdlich. In der Fürstenfeldbrucker Fos/Bos war er schon um die 20 Mal, wie der Lehrer Richard Seidl, der diese Besuche organisiert, schätzt. Die KZ-Gedenkstätte in Dachau ist dabei so etwas wie seine Basis. So wie sie es auch für den Zeitzeugen Max Mannheimer war, der 2019 96-jährig starb. Die Zeit ist unerbittlich. Es werden immer weniger, die noch aus eigener Erfahrung berichten können von dem Horror jener Tage. Erst vor ein paar Tagen ist Peter Gardosch im Alter von 92 Jahren gestorben. Er hatte am Donnerstag ins Lichtspielhaus zur Vorpremiere des Dokumentarfilms über sein Leben kommen wollen.

Naor ist eine kleiner, schlanker Mann im schwarzen Anzug, mit weißem Haar, Brille. Und mit aufrechtem Gang. Irgendwann setzt er sich dann doch auf den bereit gestellten Stuhl - "der Rücken ...". 90 Schüler der Fachoberschule Fürstenfeldbruck haben ihn erwartet. Draußen vor den Fenstern fällt buntes Laub von den Bäumen. Darüber spannt sich ein bleigrauer Himmel. Drinnen berichtet Abba Naor mit klarer Stimme von seinem Leben. Er ist routiniert. Aber diese Frage eines Schülers wirft ihn auch nach so vielen Jahren wieder aus der Bahn. "Denken sie noch oft an ihre Mutter?" Betretene Stille. Ja, Naor denkt an seine Mutter und an den älteren und jüngeren Bruder, die ermordet wurden. Warum musste die Mutter mit 38 Jahren sterben? "Ich wollte meine Familie zurück ins Leben holen, ich wollte sie wieder lebendig machen", sagt Naor. Aber er hatte damals schon geahnt, dass es ein Abschied für immer werden sollte, damals im KZ-Lager Stutthof bei Danzig. Mutter und Bruder wurden nach Auschwitz gebracht. "Wenigstens kann ich über sie reden." Das Reden ist für den gebürtigen Litauer, der mit einem ganz leichten osteuropäischen Akzent spricht, so etwas wie Therapie. Zu einem Psychiater sei er nie gegangen. Denn dort, so vermutet er, hätte er ja auch nichts anderes tun können als an diesem Vormittag: reden. So wie er das macht vor den jungen Leuten - bei denen er vielleicht auch noch etwas Positives bewirken kann. Zwei Stunden lang machen die Schüler der zehnten bis dreizehnten Jahrgangsstufe das, was man der "Instagram-Generation" manchmal vorschnell abspricht: Sie hören konzentriert zu. Ist ja alles noch keine 80 Jahre her. Auch wenn es wirkt wie eine andere Welt in schwarz-weiß.

Mit seinen 94 Jahren steht Abba Naor immer noch die meiste Zeit seines Vortrags. (Foto: Günther Reger)

Abba Naor scheint manchmal selbst zu staunen beim Blick auf die eigene Biografie. In eine Familie werde man hineingeboren, nichts als ein Zufall. Damals war es verhängnisvoll, in eine jüdische Familie hineingeboren zu werden. In Zeiten, in denen Politiker und alsbald auch Nachbarn eine Minderheit suchten, die ihnen als Sündenbock dienen konnte. Noch bevor er seinen Lebensgeschichte erzählt, bringt Abba Naor seine große Sorge zum Ausdruck. Die Sorge, dass die fatale Saat des Hasses gerade wieder aufgehen könnte. Dass der Antisemitismus überall auf der Welt wieder auf dem Vormarsch ist, das lässt ihm keine Ruhe. Auf der anderen Seite ist er "entzückt" von den jungen und aufmerksamen Menschen, die ihm auch an diesem nasskalten Tag einen warmen Empfang bereitet haben. Gute Menschen lernte er auch in seiner Jugend kennen. Da waren die Bauern, die der fünfköpfige Familie auf der Flucht Unterschlupf gewährte. Da waren die Frauen in der Bäckerei, die ihm und seinen beiden Freunden immer heimlich etwas zum Essen deponierten. Und die Frauen, die den Häftlingen auf dem Todesmarsch Brot zuzustecken versuchten.

240 000 Juden lebten vor dem Einmarsch der Deutschen in Litauen, darunter 60 000 Kinder - von denen freilich blieben nur 350 am Leben. Meilensteine der Lebensgeschichte sind Vilnius, das Ghetto in Kaunas, in dem sein damals 14 Jahre alter Bruder erschossen wird, und das Außenlager des KZ Dachau in Utting. "Wir wussten, dass wir alle zum Tode verurteilt sind, aber wir wussten nicht, wann und wo." Der größte Traum sei es damals gewesen, sich einmal satt zu essen, erinnert er sich. Naor hat überlebt. "Ich bin noch da. Purer Zufall."

Könne er mit all diesen Erfahrungen noch an Gott glauben, fragt eine Schülerin. Abba Naor, der elffache Urgroßvater, der 13 Jahre mit seiner Familie in Allach lebte, wo auch sein Vater bis zu dessen Tod wohnte, überlegt kurz. Dann sagt er: "Ich glaube an die Menschen". Trägt er Hass in sich? "Nein, was ist Hass? Wir sind doch alle Gottes Kinder". Und hat er jemals die Hoffnung verloren? "Nein, niemals, es gibt immer Grund zur Hoffnung."

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Nachruf
:"Mit 13 durch die Hölle"

Peter Gardosch überlebte mehrere Konzentrations- und Vernichtungslager, unter anderem Dachau und war ein wichtiger Zeitzeuge des Holocausts. Bis zuletzt berichtete er auf Veranstaltungen über sein Leben. Jetzt ist er mit 92 Jahren gestorben.

Von Jessica Schober

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