MVV:Buslinien: Lebensadern eines Landkreises

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  • Vor 40 Jahren hat die SZ eigene Lokalausgaben in den Landkreisen rund um München gestartet.
  • Aus diesem Anlass haben wir unsere Leser nach dem Lebensgefühl im Großraum gefragt. Die Ergebnisse sowie viele weitere Geschichten finden Sie im digitalen Dossier "Stadt, Land, Plus".

Von Veronika Wulf

Der Mann in Arbeitskleidung weiß genau, wo er sich hinsetzen muss: erste Sitzreihe, Gangplatz, in Fahrtrichtung rechts. Von dort aus hat er den Spiegel über der Windschutzscheibe im Blick und im Spiegel den Busfahrer. Der Busfahrer, das ist "der Daniel", wie er sich vorstellt, Bauch fast bis zum Lenkrad, heute Linie 507 ab Markt Schwaben.

Der Daniel und der Mann in Arbeitskleidung kennen sich, wie man sich halt so kennt, wenn man mindestens alle zwei Wochen morgens 18 Minuten lang miteinander ratscht. Wetter, Autopreise, PS. Es geht raus aus dem Ort, rechts Wiese, links Acker, am Straßenrand ein Kruzifix zwischen Birken. Ein Schild mit Wappen verkündet die Einfahrt in den Landkreis Erding. An der Kirchenstraße steigt der Arbeiter aus. "Servus", sagt er. "Bis dann" - in zwei Wochen, wenn der Daniel die Strecke wieder fährt.

979 Kilometer Bunsnetz, bis zu 14 700 Fahrgäste am Tag

Wer in ländlichen Gegenden kein Auto oder keinen Fahrer hat, ist ohne Bus aufgeschmissen. Oder er bleibt zuhause. Der Daniel ist einer von denen, die dafür sorgen, dass auch Führerscheinlose, Umweltliebhaber oder Minderjährige von A nach B kommen. Er ist einer der Verteiler auf den rund 50 Buslinien im Landkreis. Würde man alle Linien aneinander legen, reichte die Strecke von Erding bis nach Sarajevo - 979 Kilometer.

Ziemlich rund sieht der Landkreis Erding auf der Karte aus, hat keine Spitzen wie sein Nachbar Ebersberg und keine Zipfel wie sein Nachbar Mühldorf am Inn. Die Buslinien durchziehen ihn wie ein Netz aus Adern, verzweigt und zackig verbinden sie wichtige Punkte mit mittelwichtigen, Bahnhöfe mit dem Flughafen, Stadtteile mit Dörfern, Weiler mit Häusern.

Wenn die Buslinien die Adern des Landkreises sind, dann ist Erding sein Herz. 14 700 Menschen pumpt das Busnetz an einem Schultag in alle Richtungen. Auf der ovalen Wendeplatte vor dem S-Bahnhof laufen die Linien zusammen, spucken Menschen aus und saugen neue auf, um sie an den mehr als 400 Haltestellen wieder auszustreuen. Um sie in die hintersten Winkel des Landkreises zu transportieren, nach Preisendorf, Postschwaige, Pottenau und Tappberger Feld - die Grenzen im Süden, Westen, Norden und Osten - und sei es nur für einen Fahrgast.

Mehr als 430 Haltestellen fahren die Busse an, eine davon ist St. Wolfgang. (Foto: Renate Schmidt)

Es ist nicht selten, dass man mit dem Fahrer allein im Bus sitzt. Nicht nur, wenn man bei der Haltestelle "Haus Nr. 23" bei Jettenstetten einsteigt, deren Name schon verrät, dass sie keine Metropole markiert. Auch in Markt Schwaben, in der Linie 507, die der Daniel heute fährt, an einem Wochentag um kurz nach sieben Uhr, sind die meisten der blauen Sitze leer.

In den Fahrplänen sind mehr Ausnahmen als Uhrzeiten verzeichnet

Fährt man einen ganzen Tag kreuz und quer durch den Landkreis, wird einem erstens schlecht und zweitens merkt man, dass Busfahren in der Großstadt und Busfahren auf dem Land zweierlei Welten sind. Busfahren auf dem Land - das heißt nicht nur, dass es mehr Stunden am Tag ohne Bus gibt als mit Bus. Dass in den Fahrplänen oft mehr Ausnahmen als Uhrzeiten verzeichnet sind. Und dass die Ausrede "der Bus kam nicht" noch zählt.

Busfahren auf dem Land, das heißt auch: Man kennt sich, man grüßt sich, man unterhält sich. Als ein Fahrgast vergisst, auf Stopp zu drücken, fährt der Busfahrer eben zehn Meter nach der Haltestelle rechts ran. Wenn einer angerannt kommt, wartet er. Und es kann sogar passieren, dass er nach der Endhaltestelle für eine Person noch drei Stationen weiterfährt, damit man nicht laufen muss. Drei Grad zeigt die rote Leuchtanzeige im 507er, die Regentropfen auf der Windschutzscheibe wetteifern mit den Wischblättern. "Der Frühling kommt", sagt der Daniel sarkastisch. Dabei ist ihm das Wetter ziemlich egal auf seinem gefederten Sitz hinter der riesigen Frontscheibe. "Nur Glatteis ist blöd."

Haltestelle: Gartenstraße Nord, in Notzing. Eine junge Frau mit pinkfarbener Reisetasche wartet auf den 512er Richtung Flughafen. Sie ist Beamtin und muss geschäftlich nach Köln. "Eigentlich fahre ich nie Bus, aber die Parkgebühren am Flughafen sind so teuer." Autos rauschen vorbei, es nieselt. 7.49 Uhr, Abfahrtszeit laut Fahrplan. Doch der 512er ist nicht da. Es kommt einem eine Liedzeile von Peter Fox in den Kopf.

"Frust kommt auf, denn der Bus kommt nicht." Dann kommt er doch. Der Busfahrer lächelt zur Begrüßung. Die Beamtin sagt noch, dass sie lieber Auto fährt. "Ist bequemer." Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs haben es oft schwer, in dünn besiedelten Landstrichen eine regelmäßige Busverbindung zu finanzieren, wenn kaum Leute mitfahren. Und je weniger mitfahren, desto weniger Busse schicken sie los, was wiederum die Leute meckern lässt.

Auf die Frage, was ihnen an ihrem Wohnort besonders gut gefällt, gaben in einer nicht repräsentativen Umfrage der SZ 43 Prozent der Leser im Landkreis die "Anbindung an den ÖPNV" an. Kein schlechtes Ergebnis. Aber: Dafür sind vor allem die Städter verantwortlich. 65 Prozent der Befragten aus Erding lobten die Verkehrsanbindung. Im restlichen Landkreis sah das nur jeder Vierte so.

In der Ferne taucht die Heckflosse eines Flugzeugs im Regendunst auf und erinnert plötzlich an fremde Länder, Städte, Strände. Am Terminal 1 steigt eine Stewardess aus Riga in den 512er. Rosa Mantel, blonde Haarspitzen. Sie hat sieben Stunden Zeit zwischen zwei Flügen und will nach Erding zum Shoppen. München kennt sie schon. Als "Großstadtkind" zieht es sie auf Reisen eher in kleinere Städte. Draußen regnet es noch immer, und es ist kalt. "Das Wetter in Bayern: regnerisch und kühl", läuft der Text auf dem Busbildschirm wie zur Bestätigung durch. Die Stewardess schaut aus dem Fenster. Acker, Wiese, Acker. "Sightseeing!", sagt sie fröhlich, als jage eine Sehenswürdigkeit die nächste. "Ein bisschen wie bei meiner Oma auf dem Land in Litauen, wo ich als Kind die Sommer verbracht habe. Oder wie in der Schweiz."

Nicht weit vom Flughafen entfernt, wo Reisende aus allen Ländern hektisch zum Gate hechten und Flieger nach Toronto, Turin und Teheran abheben, heißen die Bushaltestellen "Dorfplatz" oder einfach nur "Rewe". Man sitzt wieder allein mit dem Fahrer im Bus, Linie 569.

Der Busfahrer, Fleecejacke, Schnauzer, fährt seit 14 Jahren die Adern des Landkreises ab, heute Richtung Gaden. Er ist froh um den blauen Aufkleber über der Windschutzscheibe: "Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen." Smalltalk beim Steuern stresst ihn. Draußen stehen Hühner und Plastikrutschen in Vorgärten. In einer Haltebucht am Waldrand stellt er den Motor ab, 18 Minuten Pause. Wenn er steht, redet er dafür umso lieber. Von seiner Frau, die in der Mittagspause zuhause für ihn kocht, nur 200 Meter vom Busunternehmen entfernt. Von den Schülern, die er so mag und die zu ihm nach vorne laufen und sagen: "Der hat mich geärgert, mach mal was." Er sage dann immer, er komme später nach hinten. "Und nach zwei Minuten haben sie es wieder vergessen."

Vor 25 Jahren kam er aus Kasachstan nach Deutschland, hat als Lagerarbeiter und Staplerfahrer gearbeitet. "LKW fahren war auch okay, aber da muss man immer schwere Sachen ein- und ausladen. Im Bus muss ich nur den Türknopf drücken, die Leute steigen alleine ein und aus."

Schüler, Auszubildende und Studenten sind die häufigsten Mitfahrer. Um 13 Uhr ist Rush Hour, am Bahnhof Erding prescht eine Horde Schüler in die 502. Es ist eng und laut, das Kondenswasser läuft die beschlagenen Scheiben herunter. Laut Fahrplan braucht der Bus 32 Minuten nach Wartenberg. "Bei dem Wetter und so vielen Schülern eher 45", sagt Thomas Kunzendorf. Er und Lukas Bruchmann, beide 17 und Schüler am Korbinian-Aigner-Gymnasium in Erding, verbringen viel Zeit im Bus. "Der Bus ist schon wichtig für uns", sagt Bruchmann. "Mein Vater kann mich ja nicht ständig abholen." Haltestelle: Wartenberg Feuerwehrhaus. Genau 45 Minuten hat der Bus gebraucht.

Erding - erster Landkreis mit einem Rufbussystem

Erding ist der 500er Landkreis, fast alle Busse haben eine Fünf am Anfang, in Freising ist es die Sechs, in München die Zwei. Je abgelegener die Gegend innerhalb des Landkreises, desto länger die Zahlenfolge. Denn die langen Zahlen warnen: Achtung, Rufbus. Oder: fährt nur abends. Oder: fährt nur am Wochenende.

Erding war der erste Landkreis, der 1995 das Rufbus-System eingeführt hat. Für die Betreiber liegt der Vorteil auf der Hand: Keine leeren Busse, die unnötig Geld kosten. Für die Fahrgäste heißt das: keine Spontanausflüge.

13.41 Uhr, Haltestelle Schröding. Im Ruftaxi 5621 sitzen zwei Zehntklässlerinnen aus Hohenpolding. Sie haben einen Dauerauftrag eingerichtet. Das Ruftaxi ist für sie die einzige Möglichkeit, von der Schule nach Hause zu kommen, zumindest, wenn um 13 Uhr Schulschluss ist. Sie gehen in Wartenberg auf die Marie-Pettenbeck-Schule, die einzige in der Nähe, auf der man den Mittleren Schulabschluss im 9plus2-Modell machen kann. Das Haus verlassen sie morgens um 6.30 Uhr, um 8 Uhr geht die Schule los. "Das ist schon blöd, wie wenig Busse fahren", sagt eine der Schülerinnen, "aber besser als nix."

Fürstenfeldbruck
:Busfahren liegt im Trend

Mit dem kontinuierlichen Ausbau des Liniennetzes konnte der Landkreis Fürstenfeldbruck seit 1995 die Zahl der gefahrenen Kilometer verfünffachen. Allein in diesem Jahr werden die Regionallinien etwa acht Millionen Fahrgäste befördern.

Von Gerhard Eisenkolb

15 Uhr, Busbahnhof Taufkirchen. Drei Enten watscheln zum Wartehäuschen - und werden komplett ignoriert von den menschlichen Wartenden. "Die kommen immer unten vom Fluss hoch", sagt eine Schülerin und tippt weiter auf ihrem Handy rum. Die Enten schnattern gegen den Baustellenlärm und die Missachtung an. Über Dorfen, St. Wolfgang und Isen geht es zurück nach Markt Schwaben. Im 567er knarzt Silbermond aus dem Radio: "Es reist sich besser mit leichtem Gepäck."

Ein Reh knabbert an einem Busch am Waldrand, auf einem Stoppelacker dampft ein Misthaufen, Schafe schütteln sich den Regen aus dem Fell und die Rapsfelder leuchten grellgelb gegen den grauen Himmel. Kirchtürme, Maibäume, Bushaltestellen. "Servus" und "Pfüadi" beim Ein- und Aussteigen. In St. Wolfgang grüßt eine Frau den Busfahrer: "Herrmann, schön dich zu sehen." Sie ist die Einzige im Bus, doch die Sitze bleiben leer. Lieber steht sie die ganze Fahrt vorne und ratscht mit dem Fahrer.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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