Erdinger Geschichte:Tag der Rettung

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Der US-Arzt Michael B. Shimkin ist im Mai 1945 in Dorfen. Im Waldlager in Ampfing sieht er das Grauen und organisiert Hilfe für Hunderte

Von Florian Tempel

Als vor zehn Jahren während der Renovierung des Jakobmayer in Dorfen an einer Wand ein gemalter Davidstern entdeckt wurde, war das eine Überraschung. Es war ein Hinweis auf ein vergessenes Stück lokaler Nachkriegsgeschichte. Monika Schwarzenböck, Doris Minet, Bettina Kronseder und Adalbert Wirtz begannen nachzuforschen und entdeckten: In Dorfen lebten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Hunderte jüdischer Displaced Persons, was die vier unter anderem in dem Buch "Wie kam der Davidstern nach Dorfen?" publiziert haben. In diesem Jahr hat sich Monika Schwarzenböck an einen Bericht erinnert, auf den sie während ihrer historischen Recherche gestoßen war. Der Arzt Michael B. Shimkin war Anfang Mai 1945 als ziviler Mitarbeiter der staatlichen US-Gesundheitsbehörde in Dorfen. Er beschreibt darin, wie er unweit von Dorfen in den KZ-Waldlagern bei Ampfing hunderte fast verhungerte und kranke Häftlinge fand und medizinische Hilfe für sie organisierte. Shimkins Text "An Incident at Ampfing" erschien im Oktober 1946 in der Zeitschrift The Scientific Monthly. Im Internet ist er unter anderem auf www.geschichtswerktstatt.de/incident.html zu finden.

Überlebende stehen vor der "Krankenstation" des Lagers, aufgenommen am 4. Mai 1945. (Foto: United States Holocaust Memorial Museum)

Der Artikel beginnt am 3. Mai 1945, einen Tag, nachdem Dorfen an die US-Streitkräfte übergeben worden war. Der damals 32 Jahre alte Shimkin bildet mit einem Abwasser-Ingenieur, einer Krankenschwester und einem Fahrer ein Gesundheitsteam. Sie sollen die Situation in den eingenommenen Orten und in den DP-Camps begutachten, Krankenhäuser reorganisieren und über alles Berichte verfassen.

Am 3. Mai besucht das Team das Kriegsgefangenenlager in Moosburg. Nach der Rückkunft in Dorfen bekommen sie einen neuen Auftrag: In der Nähe von Ampfing soll es nach dem Bericht eines Armeeangehörigen Konzentrationslager geben "mit schlimmeren Zuständen als in Buchenwald". Shimkin war bei der Befreiung von Buchenwald dabei und glaubt, es könne sich nur um Übertreibungen handeln.

Erdhütten des Waldlagers VI, eines Außenlagers des KZ Dachau, in der Nähe von Ampfing. (Foto: United States Holocaust Memorial Museum)

Am 4. Mai fährt sei Team morgens nach Ampfing, das auf Shimkin einen vom Krieg unberührten Eindruck macht. Dann treffen sie zwei abgemagerte Männer in schäbiger gestreifter Häftlingskleidung, die in einer Bäckerei Brot besorgt haben. Die Männer weisen ihnen den Weg ins Waldlager, wo sie in Erdhütten und Baracken mehrere Hundert fast verhungerte Männer vorfinden, und auch eine junge Frau mit einem einen Monat alten Baby.

Die Häftlinge sind in dem Lager zurückgelassen worden, als eine Woche zuvor etwa 3600 andere Elende aus den Lagern zwischen Ampfing, Waldkraiburg und Mühldorf in einen Zug gepfercht worden waren, der über Dorfen, Poing und Markt Schwaben nach München und weiter Richtung Süden fuhr. Die im Waldlager zurückgebliebenen sind fast alle an Typhus erkrankt. Sie sind völlig erschöpft und ausgemergelt, viele haben keine Kleidung mehr. "Ihre Knie waren der dickste Teil ihrer Beine", schreibt Shimkin. In großer Geschwindigkeit organisieren er und sein Team die Rettung vieler der meist aus Ungarn stammenden Juden. Im nahen Bürogebäude der Organisation Todt wird ein Notkrankenhaus eingerichtet. Unter verordneter Hilfestellung der Ampfinger Bürger werde noch mehr improvisierte Krankenstationen eingerichtet, da in weiteren Lagern weitere hunderte Gefangene gefunden werden. Frauen aus dem Ort werden zur Pflege der Kranken verpflichtet, es wird für ihre Ernährung und mit Hilfe der US Army für medizinische Versorgung gesorgt. Die schnelle Hilfe rettet vielen das Leben.

Michael B. Shimkin. (Foto: National Cancer Institute)

Das Waldlager war im Juli 1944 als Außenstelle des KZ Dachau eingerichtet worden. Im Schnitt starb man hier nach 80 Tage an Krankheiten, am Hunger und an der vernichtend harten Arbeit. Von ungefähr 8300 Häftlingen kamen etwa 4000 um. Erst vor zwei Jahren wurde hier ein Gedenkort eröffnet.

Shimkins Bericht endet am Abend des 8. Mai 1945: "In Dorfen war alles wie üblich. Lastwägen rumpelten durch die staubigen Straßen, Soldaten nahmen Aufstellung. Heimatlose Menschen zogen durch die Straßen, und deutsche Soldaten überfüllten die Lager für Kriegsgefangene. Die deutschen Zivilisten wirkten immer noch benommen und unterwürfig. (. . .) Bevor ich einschlafen konnte, sah ich hagere Menschen in gestreifter Häftlingskleidung auf den Straßen und in DP-Lagern, die sich langsam auf den Weg nach Hause machten. Doch ein Zuhause hatten sie nicht. Der Weg für sie hatte gerade erst begonnen."

Michael B. Shimkin kehrte 1946 in die USA zurück. Als Krebsforscher machte er Karriere und wurde Professor. Ihm gelang unter anderem und als einer der Ersten der Nachweis, dass es einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs gibt. Er starb 1989 in San Diego.

© SZ vom 09.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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