Zwischen Welten:"Wir möchten unser Leben zurück"

Lesezeit: 2 min

Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker)

Unsere ukrainische Kolumnistin blickt auf ein Jahr Krieg zurück und berichtet, was sie persönlich und auch ihre Landsleute in diesen Tagen besonders bewegt.

Von Emiliia Dieniezhna

"Kannst du glauben, dass der russische Angriffskrieg schon ein Jahr dauert?" Diese Frage stellte mir meine Freundin Tinatin aus Belgien am vorigen Freitag. Da begingen die Ukrainer den ersten Jahrestag des Überfalls auf ihre Heimat. Dieselbe Frage habe ich in diesen Tagen von vielen gehört. Meine Antwort lautet: "Nein, das kann ich nicht glauben."

Dass es zum Krieg kommen wird, davon war ich aber leider überzeugt. Ich wurde von Freunden in der Armee gewarnt. Und trotzdem war ich vollkommen überrascht, als die Bomben fielen. Das Wichtigste war dann, meine Tochter und meine Familie zu schützen. Seitdem ist München für uns das zweite Zuhause geworden.

Ich habe mein Deutsch sehr verbessert und kann zum Beispiel schon ohne Probleme alle Durchsagen an der S-Bahn verstehen. Das ist vielleicht kaum zu glauben, aber es ist wirklich nicht immer leicht. Ich habe neue Freunde gefunden und trotzdem die alten Kontakte gepflegt. Ich habe viel von den Deutschen gelernt. "Ordner" ist jetzt mein Lieblingswort, sogar meine fünfjährige Tochter hat einen Ordner für ihre Unterlagen, was in der Ukraine unvorstellbar wäre.

Vor Angst um ihren Mann kann eine Freundin kaum noch atmen

Und trotzdem fühle ich mich weiter zwischen Welten. Meine stärksten Seiten sind Resilienz und Flexibilität, das sind typische Charakterzüge der Ukrainer. Sie haben mir geholfen, trotz der Kriegsverbrechen gesund zu bleiben und auch anderen zu helfen. Sie haben mir geholfen, schnell Arbeit in München zu finden und unabhängig zu bleiben.

Sie helfen aber nicht mehr, wenn ich an mein Heimatland denke und Russlands Kriegsverbrechen beobachte. Sie helfen nicht, wenn ich mit einem Freund an der Front rede. Er verteidigt uns, und um sein Leben dort zu verteidigen, braucht mein Land Waffen. Meine mentale Widerstandskraft hilft auch nicht mehr, um einer guten Freundin beizustehen. Ihr Mann kämpft seit einem Jahr an der Front. Nun wird er an einen der gefährlichsten Orte geschickt. Meine Freundin sagt, sie kann vor Angst kaum atmen.

Ich muss in diesen Situationen an den Erfolg der ukrainischen Armee glauben, genau wie alle anderen Ukrainer. Viele meiner engsten Freunde sind meine Helden. Sie helfen der Armee und den Zivilisten, gründen gemeinnützige Stiftungen, engagieren sich in der Rehabilitation - auch mit der Versorgung der Kriegsversehrten mit Prothesen. Sie organisieren Kundgebungen mit Tausenden Teilnehmern in den großen Städten der Europäischen Union und der USA, um Solidarität zu zeigen und daran zu erinnern, warum mein Land weitere militärische und finanzielle Unterstützung braucht. Zu diesen Kundgebungen in München gehe ich regelmäßig an den Wochenenden. Voriges Wochenende kamen dazu auch einflussreiche Politiker auf den Marienplatz wie der Europaparlamentarier Manfred Weber (CSU), Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und die Landtagsabgeordnete Melanie Huml (CSU). Für uns ist das sehr wichtig.

Bei diesen Kundgebungen zeigen wir, dass wir auf Sieg und Frieden warten. Wir möchten unser Leben zurück. Wir möchten zurück in die Ukraine, um dort unsere Steuern zu bezahlen, damit sie in den Wiederaufbau investiert werden. Wir möchten Gerechtigkeit für unser Volk und die Bestrafung von Kriegsverbrechern. Ich bin ganz sicher, dass wir all das erreichen werden, aber wahrscheinlich nicht sehr bald.

Emiliia Dieniezhna, 34, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Von dort aus arbeitet sie ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKrieg in der Ukraine
:"Wir haben viel geschlafen und geweint"

Was macht der Angriff auf die Ukraine mit dem Leben derer, die mit dem Leid der Opfer und dem Schrecken der Zerstörung konfrontiert sind? Sechs Geflüchtete und Helfer berichten, wie der Krieg sie verändert hat.

Protokolle von Florian J. Haamann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: