Um 8.40 Uhr darf man schon mal verstohlen gähnen - selbst wenn man es gewohnt ist, meist schon deutlich früher im Klassenzimmer zu sitzen. Egal auf welcher Seite des Pults. Doch an diesem Tag ist alles anders. Das zeigen schon die erwartungsvollen Gesichter der Jungen und Mädchen, die gar nicht schnell genug über die Treppe in den oberen Stock der Gemeindebücherei Vaterstetten stürmen können. Dort haben Büchereileiterin Patrizia Schukowski und ihr Team kräftig umgeräumt: Wo sonst Regale voller Sachbücher und Schmöker stehen, warten nun sechs Reihen mit jeweils zehn knallroten Stühlen auf zwei Klassen aufgeregter Schülerinnen und Schüler. Sie bilden die erste von insgesamt vier Gruppen, die an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Jörg Steinleitner bei einer ganz besonderen Veranstaltung erleben dürfen.
Die Barfuß-Bande hat ihren eigenen Song
Denn "Die Barfuß-Bande und die geklaute Oma" ist nicht nur genauso lustig und spannend, wie der Titel vermuten lässt, sondern der Autor beschränkt sich mitnichten aufs Vortragen des Buchtextes. Zumal die Lesung zwar sehr wohl die Essenz der Bücher enthalte - aber nicht eins zu eins deren Wortlaut.
Dass in dieser multimedialen Show auch sonst eine Menge Vorbereitung steckt, merkt man direkt beim musikalischen Auftakt: Während er sich selbst mit dem Akkordeon begleitet, studiert Steinleitner mit dem Publikum den eingängigen Song "Barfuß-Bande" ein, den man später noch mehrmals hören wird. Das Stück stammt von Helmut Sinz, mit dem der Autor, der auch für Erwachsene schreibt, schon bei seinen Krimi-Programmen zusammenspielte.
Finanziert werden die Lesungen von der Gemeinde
Seit mehr als zehn Jahren leistet sich die Gemeinde Vaterstetten diese Form der Leseförderung für sämtliche Drittklässler. Grund für die Auswahl ist laut Monika Peters, der stellvertretenden Leiterin, die im Lehrplan der Stufe verankerte "Autorenbegegnung". Durch den persönlichen Kontakt mit einer Person, deren Beruf es ist, Geschichten zu erfinden, soll Interesse an Sprache und Literatur geweckt werden. Nach diesem Vormittag steht fest: Würde man für dieses Ziel flächendeckend Vollblut-Erzähler und -Entertainer wie Jörg Steinleitner einsetzen, man müsste sich keine Sorgen mehr machen um die Buchbegeisterung kommender Generationen. Diese hier sitzt jedenfalls durchgehend mit offenem Mund und bis in die Haarspitzen gespannt auf der Stuhlkante.
Was allerdings auch damit zusammenhängt, dass der gebürtige Allgäuer sich nicht nur als Jurist und ehemaliger Radio- und Online-TV-Moderator darauf versteht, fesselnd zu sprechen, sondern durch sein Lehramtsstudium auch weiß, wie man mit Schulkindern umgehen muss.
"Detektive hören zu und passen auf!"
Interaktion lautet das Zauberwort - darum kommt spätestens alle acht Minuten die "Detektivhupe" zum Einsatz. Sie kündigt an, dass nun Fragen zum Inhalt folgen. "Detektive hören zu und passen auf!" ist das Motto und es funktioniert ganz trefflich.
Praktisch sofort schnellen alle Finger in die Höhe, als es darum geht, was Corvin, Kiki, Ben und Tanne tun, um die verschwundene und höchst außergewöhnliche Oma Schnitzel zu finden. Beim Abgleich der Talente stellt sich außerdem heraus, dass die meisten Großmütter der Schülerinnen und Schüler zwar nicht schießen, jagen oder Motorrad fahren - Bäume per Motorsäge fällen können aber wohl doch einige.
Während per Beamer die entzückenden und witzigen Illustrationen von Daniela Kohl einschweben, beweist der dreifache Vater, wie sehr er seine Fähigkeiten beim abendlichen Vorlesen perfektioniert hat. Geschmeidig bewegt er sich durch die Reihen, grummelt und schmeichelt, flüstert und schreit. Mit verstellter Stimme erweckt er gekonnt jede einzelne Figur zum Leben - sogar das lispelnde Stadtkind, das von den Dorfbuben und -Mädchen in die Freuden des Kontakts nackter Füße mit warmen Kuhfladen eingeführt wird.
Seit zwei Jahren ist der Autor auch Bürgermeister
Die Inspiration für solche Szenen stammt aus dem Dorfleben im malerischen Riegsee (Landkreis Garmisch-Partenkirchen), jener Gemeinde, der Steinleitner seit zwei Jahren als Bürgermeister vorsteht. Und natürlich von den Abenteuern des eigenen Nachwuchses. Zwei seiner Sprösslinge hat er sogar dabei - wenn auch nur als Protagonisten eines kurzen Einspielers vor unheimlicher Kulisse, der Hitchcock alle Ehre gemacht hätte.
In einem zweiten Clip zeigt er Illustratorin Kohl, die den Büchern noch ganz viel an Leben und vor allem Witz hinzufüge, bei der Arbeit.
Die angefertigte Zeichnung geht als Hauptpreis an das Kind mit den meisten richtigen Antworten, erkennbar an der Zahl der erbeuteten Detektivkarten.
Als zum Abschluss der Song noch ein letztes Mal durch die Bücherei schallt, wackeln wirklich die Wände. Die Lehrerin der 3a, Ayse Sim, die den Autor nicht zum ersten Mal erlebt, ist wie stets begeistert und beeindruckt. Sie bezeichnet die Lesung als "mitreißendes Erlebnis für alle Sinne". Doch auch Steinleitner hat ein Kompliment für die Lehrkräfte: Die Fähigkeit, so aktiv zuzuhören und so viele Fragen in so kurzer Zeit beantworten zu können, wie das junge Publikum an diesem Tag, sei auch eine Frage der Schulkultur. Er merke gleich, wo das Lesen gepflegt werde.
Die echte Oma Schnitzel wohnt im Alpakahof
Sein erklärtes Anliegen, Brücken zu bauen, die Fantasie anzuregen und Kinder fürs Lesen zu begeistern, hat er in jedem Fall erreicht. Viele fragen, ob es noch mehr von der Barfuß-Bande gibt - ja, ein weiterer Band liegt schon vor. Wie sie eine Produktionsfirma erreichen könnten, die für eine Verfilmung der Abenteuer sorgt, wollen zwei Mädchen noch wissen. Das kann der Autor ihnen leider nicht beantworten - stattdessen erzählt er der Reporterin, wo das Vorbild für Oma Schnitzel wohnt: Im Alpakahof in Riegsee.
Nach 70 ereignisreichen Minuten, die im Handumdrehen verflogen sind, brauchen die Zuschauerinnen und Zuschauer definitiv keinen Wachmacher mehr. Nur Steinleitner, der sich so verausgabt hat, freut sich über einen belebenden Cappuccino von der Büchereileitung.