Präventionsprojekt:Mehr als schlechte Laune

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Beide Figuren fühlen sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Doch welche braucht Hilfe? Das Theaterprojekt "Icebreaker", hier an der Mittelschule Vaterstetten, setzt sich mit Depressionen bei Jugendlichen auseinander. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Woran erkennt man eine Depression? Das Theaterprojekt "Icebreaker" lässt Schülerinnen und Schüler über das Verhalten zweier Bühnenfiguren diskutieren. Ein brisantes Thema - gerade nach drei Jahren Corona.

Von Anja Blum, Vaterstetten

Es ist ein wahrlich schmaler Grat, den die Jugendlichen der Mittelschule Vaterstetten an diesem Vormittag erkunden: Es geht um die Frage: Wo hört schlechte Laune auf - und wo fängt die Depression an? Gerade bei Pubertierenden ist das nämlich alles andere als leicht zu erkennen, sind sie doch generell gerne mal muffig. Sei es aus Liebeskummer, Schulstress, Fußballfrust - oder einfach so. Immer häufiger aber verdunkelt sich eine junge Seele dermaßen, dass Hilfe von außen notwendig wird. Aufklärung verspricht da ein wirklich außergewöhnliches Theaterprojekt, das jeweils eine Woche lang an einer Schule zu Gast ist und in interaktiven Aufführungen seinen krönenden Abschluss findet. Unter dem Titel "Icebreaker" erklären Jugendliche anderen Jugendlichen, was das ist: Depression im Jugendalter. Ein Thema von großer Brisanz, gerade auch infolge von Corona.

Und dieses Präventionstheater, das gerade an der Mittelschule in Vaterstetten gastiert, funktioniert so: Sieben Freiwillige, in diesem Fall lauter Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klasse, spielen acht kurze Szenen, die sich am Alltag der Jugendlichen orientieren. Das schlichte Bühnenbild zeigt ein abstrahiertes Mehrparteienhaus mit Treppe in der Mitte sowie zwei Jugendzimmern rechts wie links. Und deren Bewohner sind die Hauptfiguren, Anna und Robert, eindringlich gespielt von Magdalena und Leonhard. Beide Figuren haben Probleme einzuschlafen, morgens aufzustehen, ihre Dinge zur Zufriedenheit von Familie und Freunden zu gestalten. Es geht um die Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten, unaufgeräumte Zimmer, versäumte Hausaufgaben, abgelehnte Freizeitaktivitäten und dergleichen mehr. Das dürfte vielen im Publikum bekannt vorkommen, denn dort sitzen ebenfalls Jugendliche, aus der Mittelschule selbst, aber auch aus dem benachbarten Gymnasium.

Theatermacher Jean-François Drozak moderiert die Suche nach der richtigen Diagnose - bei der auch Punkte vergeben werden können, markiert durch diese Kugeln. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch nicht um den Wiedererkennungseffekt geht es, sondern um eine feine Unterscheidung: Welche der dargestellten Personen macht nur eine schwierige Phase durch - und welche rutscht gerade in eine ernsthafte Depression? Anna? Oder doch Robert? Das herauszufinden, ist Aufgabe der jungen Zuschauer. Sie werden quasi zum "Facharztkollektiv", das die beiden Fallbeispiele jeweils zwischen den einzelnen Szenen diskutieren soll. Allerdings werden die Jugendlichen dabei nicht alleingelassen: Zum einen bekommen sie eine Checkliste an die Hand, auf der die Merkmale einer Depression in Frageform dargestellt sind. Außerdem gibt es einen Moderator. Theaterpädagoge Jean-François Drozak, der kreative Kopf hinter "Icebreaker", begleitet die Suche nach einer Diagnose.

Fehlende Freude und Energie, Appetitlosigkeit, Konzentrationsprobleme, überzogene Selbstkritik, Zukunftsängste, tiefe Verzweiflung bis hin zu Suizidgedanken: Depression hat viele Gesichter. "Außerdem ist sie eine schleichende, stille Krankheit - und das wollen wir mit unserem Stück und seiner präzisen, achtsamen Ästhetik widerspiegeln", sagt Drozak von der Agentur "Kunstdünger" aus Nürnberg. Ihm ist das Thema ein großes Anliegen, er arbeite bereits seit zehn Jahren an dem Projekt "Icebreaker", erzählt der Theaterpädagoge. Am Anfang sei er dabei allerdings auf erhebliche Hürden gestoßen, sowohl im Bildungs-, als auch im Medizinsektor. "Depression bei Jugendlichen waren lange ein großes Tabu", sagt Drozak, "doch glücklicherweise ändert sich das gerade. In der Pandemie haben die jungen Menschen so viel geleistet, um Schwächere zu schützen - nun ist es an der Zeit, ihnen etwas zurückzugeben."

Blickt gespannt der ersten Aufführung entgegen: das "Icebreaker"-Team an der Mittelschule Vaterstetten. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

An 20 bayerischen Schulen war das Präventionstheater heuer bereits zu Gast, und 2023 werde es erfreulicherweise in diesem Umfang weitergehen, sagt Monika Nitschke, die das Projekt im Auftrag der AOK Bayern betreut. Die Krankenkasse ist der Geldgeber hinter "Icebreaker", dank eines neuen Präventionsgesetzes habe man nun nämlich viel mehr Möglichkeiten, solche Initiativen zu fördern, sagt Nitschke. Wie ernst das Thema mittlerweile auch von den offiziellen Stellen genommen wird, zeigt die Tatsache, dass gleich zwei bayerische Minister als Schirmherren fungieren: Kultusminister Michael Piazolo sowie Gesundheitsminister Klaus Holetschek.

Auch in Vaterstetten ist man begeistert. Schulpsychologin Susanne Dorner-Ramlow und Rektorin Catherine Aicher freuen sich vor allem darüber, dank der Interaktion bei den Aufführungen so viele Schülerinnen und Schüler intensiv erreichen zu können. Nach drei Vorstellungen werden rund 360 junge Vaterstettener das Stück erlebt haben. Doch laut Drozak wird sich die Wirkung des Eisbrechers vermutlich nicht auf diesen einen Vormittag beschränken: "Da statistisch momentan etwa 30 Prozent der Jugendlichen psychisch belastet sind, wird es nach dem Theater jede Menge Redebedarf geben." Und damit werde man die Schüler auf keinen Fall alleine lassen - sondern sie auffangen: Die Schulpsychologin stehe jederzeit für Gespräche bereit, selbst am Wochenende sei sie erreichbar.

Checklisten wie diese seien normalerweise in drei Minuten "abgearbeitet", deswegen müssten sie in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, sagt Regisseur Drozak. Sein Stück etwa nimmt sich 75 Minuten Zeit für das Thema. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Dabei kann es auch sein, dass der Ratsuchende gar nicht wegen sich selbst kommt, denn Depression ist eine Herausforderung für das gesamte Umfeld des Erkrankten. Besonders betroffen sind neben den Eltern auch Freunde und vor allem Geschwister, deren Perspektive in dem Stück ebenfalls beleuchtet wird. Die jungen Zuschauer sollen lernen, Verdachtsmomente einer Depression bei jemand anderem zu erkennen - und diese dann auch anzusprechen.

Längst erkannt, wie wichtig das Thema ist, haben die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler. Auch wenn der ein oder andere zunächst eher aus Theaterleidenschaft zu "Icebreaker" kam, so hat doch die intensive Auseinandersetzung mit der Depression inzwischen deutlich Spuren hinterlassen. "Mit der Zeit haben wir gemerkt, was diese Sätze wirklich bedeuten", sagt eine der jungen Darstellerinnen, es handle sich bei den nur vermeintlich alltäglichen Szenen um einen sehr tiefgründigen Text. "Und jeder sollte etwas über dieses Thema wissen, sollte schlechte Gefühle einordnen können", betont eine Bühnenkollegin. Insofern hoffe man, mit dem Stück viele Gespräche anregen zu können. In die belasteten Rollen zu schlüpfen, fällt den Jugendlichen allerdings nicht unbedingt leicht. "Ich wäre als Bruder nie so böse zu meiner Schwester!"

Fest steht: Diese spielerische, interaktive und dadurch sehr persönliche Auseinandersetzung nimmt der Depression das Fremde - und schafft Verständnis für Betroffene sowie ihr Umfeld. Wichtig aber ist vor allem eine Botschaft: dass diese Krankheit heilbar ist.

Bayerische Schulen, die sich für das Projekt "Icebreaker" interessieren, können sich an Jean-François Drozak wenden, und zwar per Mail an info@kulturdesign.org .

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