SZ-Adventskalender:Nicht mal eine Tafel Schokolade

Lesezeit: 3 min

Hunde und andere Tiere waren für Marie-Luise H. der Lebensinhalt. Seit sie krank ist, kann sie ihrer Arbeit im Tierheim nicht mehr nachgehen. Das ist es, was ihr am meisten fehlt. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Marie-Luise H. leidet an multiplen Krankheiten und schweren Depressionen. Frührente und Inflation machen schon die kleinsten Anschaffungen so gut wie unmöglich.

Von Alexandra Leuthner, Ebersberg

Eigentlich spricht sie gern und mit klaren Worten. Marie-Luise H. (Name von d. Redaktion geändert) macht sich viele Gedanken, über das Leben, die Gesellschaft, ihre Mitmenschen. Sie hat eine klare Meinung zu den Dingen und weiß sie zu formulieren. Doch an einem Punkt des Gesprächs im Auftrag des SZ-Adventskalenders muss sie abbrechen, beginnt am ganzen Leib unkontrolliert zu zittern. Obwohl sie die Frage eigentlich beantworten will, die Frage nach jenen Situationen, die sie so ängstigen, dass sie ohne Begleitung nicht mehr vor die Tür gehen will. Nicht zum Spazierengehen, nicht zu einem jener Kabarettabende, die sie früher manchmal besucht hat, ja, noch nicht einmal zum Einkaufen.

Schon was die heute 60-Jährige als Kind erlebt hat, muss sie schwer traumatisiert haben. Der Vater starb, als sie 14 Jahre alt war, die Mutter lehnte die Tochter ab. Ein Unfall sei sie gewesen, das hat sie als Mädchen wohl immer wieder gehört. "Sie hat mich geschlagen", erzählt sie über ihre Mutter. Auch mit der älteren Schwester habe es immer Probleme gegeben, "da muss ich dieses modische Wort verwenden, toxisch", sagt sie. Toxisch sei das Verhältnis zu ihrer Schwester auch später noch gewesen. Sie habe die Beziehung abgebrochen. Die Mutter und ihr älterer Bruder sind inzwischen gestorben, "alle an Krebs", und Marie-Luise H. steht allein in der Welt. Hätte sie nicht schon vor vielen Jahren einen Platz im betreuten Wohnen gefunden, sie hätte "das irgendwann nicht mehr geschafft".

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Lebensbedrohliche Depressionen quälen sie schon seit Jahrzehnten, dazu leidet sie an verschiedenen körperlichen Krankheiten wie Morbus Bechterew, Rheumatoide Arthritis, Spinalkanalstenose, Karpaltunnelsyndrom, chronisches Lendenwirbel-Syndrom, sie hatte mehrere Bandscheibenvorfälle. "Ich brauche in der Früh eine Stunde, bis die Hände nicht mehr geschwollen sind", berichtet sie, auch unter tags müsse sie sich immer wieder hinlegen.

Nach dem Abschluss der Mittelschule hatte Marie-Luise H. eine Ausbildung zur Tierarzthelferin gemacht, dann begonnen, in einer Praxis mitzuarbeiten, zehn Jahre lang, wie sie erzählt. Der Tierarzt war auch ihr Lebenspartner - der sie die ganze Zeit über ohne ihr Wissen unangemeldet beschäftigte. Zehn Jahre, in denen er als Arbeitgeber nichts für sie in die Rentenkasse einzahlte. Als sie schließlich psychisch krank wurde, setzte er sie auf die Straße. "Ich brauche eine gesunde Frau, das waren seine Worte." Dass zu der Beziehung viel Gewalt gehört habe, psychische und physische, dass ihr Expartner sowohl ihr Verhältnis zu ihrem Bruder als auch zu ihren Freunden sabotiert habe, dass sie vergewaltigt worden sei, erwähnt Marie-Luise H. nur am Rande. Dass damit auch ihre Angst vor dem "normalen Leben" zusammenhängt - das ist es, worüber sie kaum sprechen kann.

"Keine Arbeit, keine Wohnung, keine Perspektive."

Als die Beziehung mit ihrem Chef auseinanderging, "war nichts mehr da, keine Arbeit, keine Wohnung, keine Perspektive." Dann sei sie in der Psychiatrie gelandet, war zwischendurch auf der Heimstation im Klinikum Haar. Mit psychologischer Unterstützung schaffte sie einen Neuanfang und einen Job mit Unterkunft in einem Tierheim, wo sie die medizinische Betreuung der Pfleglinge übernahm. Katzen, Hunden, Pferde, Esel und Ziegen und Schweine landeten in der Auffangstation. "Ich war für vier Tage angestellt, aber eigentlich rund um die Uhr tätig", erzählt sie, sie habe sich um die Feuerwehr gekümmert, wenn die ihre Übungen abgehalten habe, um die Führungen von Schulklassen oder Erste-Hilfe-Kurse, um besonders schwierige Hunde.

Der Umgang mit den Tieren, das Arbeiten habe ihr immer Spaß gemacht, aber sie habe auch viel Schlimmes gesehen, ausgesetzte Tiere von der Autobahn abgeholt oder verwahrloste aus Wohnungen. "Irgendwann ist mir das alles zu viel geworden, ich habe das psychisch und körperlich nicht mehr geschafft. Ich habe mich im wahrsten Sinne des Wortes kaputt gearbeitet."

Auf das Drängen einer Sozialarbeiterin hin habe sie schließlich, mit 41 Jahren, eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragt. "Und so eine Rente ist nicht üppig. Ich bin unterhalb der Armutsgrenze. Es heißt immer Existenzminimum, aber mit der Inflation ist man darunter."

"Früher habe ich auch nicht gedacht, dass ich mal krank werden würde."

Marie-Luise H. lebt heute allein in ihrer betreuten Wohnung, "aber ich suche gar nicht mehr nach Kontakten." Viel schwerer als das Alleinsein wiege das Gefühl, von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, dass die Leute glaubten, "dass man dumm ist oder nicht arbeiten will. Aber als ich meinen Job früher gemacht habe, habe ich auch nicht gedacht, dass ich mal krank werden würde."

Von Rente und aufstockender Grundsicherung bleiben ihr nach Abzug aller laufenden Kosten 250 Euro übrig. Gesunde Ernährung oder Bio sei da nicht drin, auch keine neue Kleidung. "Süßigkeiten oder Joghurt gibt es nur, wenn sie im Angebot sind." Eine lang fällige Zahnbehandlung könne sie sich ebenso wenig leisten wie eine neue Brille oder die Fahrtkosten zu einem Therapeuten in der Stadt, der auch Kassenpatienten behandelt. "Man sucht sich Armut ja nicht aus, da ist niemand davor gefeit, dass ihm nicht selbst so etwas passiert. Das Sprichwort 'Jeder ist seines Glückes Schmied', das hasse ich wirklich".

So können Sie spenden

Überweisungen sind auf folgendes Konto möglich: "Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung e.V.", Stadtsparkasse München, IBAN: DE86 7015 0000 0000 6007 00, BIC: SSKMDEMM

Weitere Informationen auf www.sz-adventskalender.de .

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