Prozess am Landgericht in München:Der achte und letzte Kunde

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Ein 66-Jähriger aus dem Landkreis Ebersberg hat Männer illegal kastriert, einer ist gestorben

Von Johanna Feckl, München

Das Gefühl, Szenen aus einem Horrorfilm geschildert zu bekommen und nicht Ereignisse aus dem echten Leben, reißt auch am zweiten Verhandlungstag im Prozess eines Mannes aus dem nördlichen Landkreis Ebersberg am Oberlandesgericht München nicht ab. Wie der 66-Jährige bereits am Vortag zugab, hat er bei acht Männern auf deren eigenen Wunsch hin Kastrationen und andere operative Eingriffe im Genitalbereich durchgeführt, teilweise gegen ein Honorar - und hat all seine Kunden über seine nicht vorhandene medizinische Ausbildung belogen. In sieben Fällen sind die Operationen noch einigermaßen glimpflich ausgegangen. Der achte Mann jedoch starb nach einem solchen Eingriff in der Obhut des Angeklagten - er verpackte die Leichte daraufhin in einen Karton und ließ ihn zwei Wochen lang in seinem Wohnzimmer stehen, bevor die Polizei die grausige Entdeckung machte. Die Anklage lautet auf schwere und gefährliche Körperverletzung sowie auf Mord durch Unterlassen im Falle des Verstorbenen. Ein Urteil wird voraussichtlich Ende November fallen.

Es sei an einem Freitagabend im Frühjahr 2020 gewesen, als der Angeklagte seinen achten Kunden, um den es neben den Aussagen zweier weiterer Kunden an diesem Tag vornehmlich ging, in seiner Wohnung im Ebersberger Landkreis tot aufgefunden hatte. Noch am Morgen hätten sie gemeinsam gefrühstückt, da sei noch alles in Ordnung gewesen. Dann ist er zu seiner Arbeit aufgebrochen, wie der Angeklagte aussagte. Der erste von mehreren Eingriffen an dem Verstorbenen lag zu diesem Zeitpunkt etwa zwei Wochen zurück. Es sei der Wunsch von eben jenem gewesen, fortan als Eunuch weiterzuleben, so schilderte es der Angeklagte.

Die Eingriffe seien problemlos verlaufen, wie er weiter angab. Er habe sogar auf Wunsch des später Verstorbenen, der zugleich ein guter Bekannter des 66-Jährigen war, einen künstlichen Harnausgang zwischen den Beinen gelegt, alles ohne Probleme. Sie hätten in den Tagen nach den Operationen gemeinsame Ausflüge unternommen, bevor er jeden Abend die Wunde begutachtet und versorgt habe. Als er seinen Bekannten tot im Bett vorfand, sei Erbrochenes auf dem Kissen neben ihm und in seinem Mund gewesen. Deshalb ging er damals von einem Erstickungstod aus. Dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Tod und den von ihm durchgeführten operativen Eingriffen gibt, dass sich sein Kumpel bereits die Tage zuvor in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand befunden hat und er aus Angst, seine illegalen Machenschaften würden auffliegen, sobald er einen Arzt hinzurufen würde und es deshalb auch nicht tat, stritt der 66-Jährige vehement ab.

Als plausibel bewertete der Vorsitzende Richter Thomas Bott die Version des Angeklagten nicht. So wunderte er sich zum Beispiel über den zeitlichen Ablauf der Vorgänge. Denn bei der polizeilichen Vernehmung gab der 66-Jährige noch einen viel früheren Todeszeitpunkt an als nun vor Gericht. "Meine Gedanken sind Karussell gefahren", sagte der Angeklagte. "Ich war bei der Vernehmung total durcheinander." Wie der Vorsitzende Richter klar machte, ging es ihm weniger um ein konkretes Datum, sondern um die Logik: Der Angeklagte hat seinen toten Bekannten zwei Tage lang in seinem Bett liegen lassen, bevor er einen großen Karton von Nachbarn organisierte, diesen am Boden mit einer Folie zur Verstärkung ausstaffierte, die Leiche darin verstaute, den Karton mit Gafferband verschloss und ihn auf einer Sackkarre im Wohnzimmer abstellte. Den Karton, so behauptete es der Angeklagte mehrmals, wollte er vor einem Bestattungsunternehmen abstellen - aber es habe sich keine Möglichkeit ergeben, ihn von den Nachbarn unbemerkt aus seiner Wohnung und in sein Auto zu transportieren. Zwei Wochen lang nicht. Es erschien dem Richter nicht logisch, dass mit einem solchen strikten Plan nun der Todeszeitpunkt "auf einmal um viele viele Tage nach hinten geht".

Stattdessen hielt er es für möglich, dass der 66-Jährige scharf kalkuliert hat: Aufgrund seiner jahrelangen Nebentätigkeit in einem Bestattungsbetrieb hätte er gewusst, je länger und wärmer eine Leiche gelagert wird,desto schwieriger wird es, bei einer Obduktion die tatsächliche Todesursache festzustellen - Ersticken durch Erbrechen war es übrigens nicht, wie bei der Autopsie in diesem Fall trotzdem festgestellt werden konnte.

In diesem Zusammenhang stellte Richter Bott auch die Frage, wieso der Angeklagte sich mit der im Karton versteckten Leiche weiterhin in den einschlägigen Chat-Foren herumtrieb, über die er seine Kastrations- und BDSM-Kunden bezog, wenn er doch so durcheinander war. Und ein denkbar großes Problem vor seiner Nase. "Damit ich nicht ständig dran denken muss", sagte der Angeklagte. Und als einer aus dem Chat fragte, ob er immer noch solche Eingriffe vornehme - und er mit "Ja" antwortete? War nicht ernst gemeint, wie der 66-Jährige mehrmals versicherte. Sein achter Kunde, der Verstorbene, sollte sein letzter Kastrationskunde sein.

© SZ vom 30.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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