Gemeinschaftliches Kunstprojekt:Der Stift als Seismograf

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Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte, das weiß Natalja Herdt aus Poing nur zu gut. Deswegen hat sie Menschen aus ihrem Umfeld dazu eingeladen, ihre Gefühle und Gedanken in einem kreativen Tagebuch festzuhalten. (Foto: Christian Endt)

Natalja Herdt, Künstlerin aus Poing, hat dazu eingeladen, eine Art kreatives Tagebuch zu führen, rund 20 Menschen haben sich beteiligt. Nun gibt eine Ausstellung Einblicke in ihre Gedanken zu Angst, Hoffnung und Mut.

Von Anja Blum, Poing

"Zeichnen darf man ohne Maske. Zeichnen überträgt keine Krankheiten. Zeichnen macht ruhig, es stoppt aufkeimende Angst. Der Kauf von Stiften und Papier ist ein guter Grund, das Haus kurz zu verlassen. Ganz schön mutig!" Das schreibt Claudia Kluge zur "Zeichenaktion 2020" von Natalja Herdt. Die Künstlerin aus Poing hatte Menschen aus ihrem analogen wie digitalen Umfeld dazu eingeladen, eine Art bildnerisches Tagebuch zu führen: der Stift als Seismograf von Stimmungen, die Skizze als emotionale Landkarte. Was alles Erstaunliches bei diesem Gemeinschaftsprojekt herausgekommen ist, zeigt Herdt nun mit einer Ausstellung in ihrem Atelier in Ottersberg. Vernissage ist am Freitag, 22. Juli, um 19 Uhr.

Angst, Hoffnung, Mut: Mit dieser Zeichnung lud Natalja Herdt dazu ein, ein kreatives Tagebuch zu führen. (Foto: Veranstalter)

Die Idee ist so einfach wie überzeugend: Natalja Herdt hatte dazu aufgerufen, zwei Monate lang täglich ein ganz persönliches Bild zu malen. Als eine Art gedanklichen Leitfaden gab die Künstlerin drei Fragen aus: "Was macht mir heute Angst? Was gibt mir heute Hoffnung? Was macht mir heute Mut?" Welchem dieser Aspekte man sich wann widmete, und wie man sie umsetzte, blieb freilich jedem selbst überlassen.

Obwohl es nun auf den ersten Blick so scheint, als sei diese Initiative Herdts der Corona-Krise geschuldet: Dem ist nicht so. Bereits Ende 2019 startete die Poingerin ihre "Zeichenaktion 2020", schon in der ersten Runde setzte sie die Themen Angst, Hoffnung und Mut. "Jeder kann dabei mitmachen - und es lohnt sich", sagt sie zu Beginn. Auch wenn es am Anfang Überwindung koste, einen Stift in die Hand zu nehmen und eigene Gefühle und Gedanken zu Papier zu bringen: "Es gibt Kraft, Mut, macht Freude und versetzt einen immer wieder in Erstaunen über die eigenen Fähigkeiten."

Stiftet mit ihren Kunstprojekten immer wieder Freude und Gemeinsinn: Natalja Herdt aus Poing. Hier mit ihren "Hoffnungsfaltern". (Foto: Christian Endt)

Damals gab es auch noch Möglichkeiten für direkten Erfahrungsaustausch, sprich: gemeinsame Zeichenstunden in Herdts Atelier. Diese Option stand dann in der zweiten Ausgabe leider nicht mehr zur Verfügung - sie fiel in den Lockdown. Umso wichtiger erschien es jedoch der Initiatorin, weiterzumachen. Ihr Argument: "Um die aktuelle Ausnahmesituation zu bewältigen brauchen wir auch viel Kreativität, im Großen wie im Kleinen." Und trotz der Beschränkungen sollte die Aktion weiterhin eine gemeinschaftliche sein: Die Zeichnenden konnten digital Kontakt halten, Herdt postete die Beiträge auf Instagram unter #zeichenaktion2020 und auf der Homepage der Gemeinde Poing. Diese hat übrigens ihren neu initiierten Kunstpreis kürzlich an Natalja Herdt verliehen.

An der Zeichenaktion beteiligten sich rund 20 Menschen zwischen zwölf und 75 Jahren

Die Auszeichnung erhielt die 46-Jährige vielleicht auch gerade deshalb, weil sie mit ihren Kunstprojekten immer wieder Freude und Gemeinsinn stiftet. An der Zeichenaktion jedenfalls beteiligten sich letztlich rund 20 Menschen im Alter zwischen zwölf und 75 Jahren aus Poing und Umgebung, teils mit professionellem, teils mit hobbymäßigem Kreativhintergrund. Sie alle haben Zeichnungen und Skizzen zu den Themen Angst, Hoffnung und Mut angefertigt, manche sogar reflektierende Texte dazu geschrieben - die meist auch Lob und Dankbarkeit beinhalten.

Claudia Kluge etwa schreibt, dass die Zeichenaktion "Struktur gab an Tagen, an denen man nicht viel machen durfte. Hoffnung!" Für Judith Jansen wiederum war der kreative Austausch vor allem "eine Erleichterung in Zeiten der Isolation". Auch Stefan Pillokat, Clown und Künstler aus Markt Schwaben, bezeichnet das Projekt als einen Ausweg aus Langeweile und Frust angesichts eines ausgebremsten Lebens - und gelangt zu einer erstaunlichen Erkenntnis: "Alles war im Rückblick weniger schlimm als gefühlt...". Vielleicht ist sein "Rhinoceross" deshalb so freundlich geraten?

"Das Rhinoceross", eine Zeichnung von Stefan Pillokat. (Foto: Veranstalter)
Dieses Gewächshaus ist für Stefanie Hermann Ruhepol und Rückzugsort, vor allem auch im Lockdown. (Foto: Veranstalter)

Stefanie Hermann, Architektin und Gartentherapeutin aus Aßling, zeichnet von Berufs wegen durchaus viel - doch das skizzierte Tagebuch war auch für sie eine ganz neue Erfahrung: "Wie ein Jäger sammle ich schöne Momente, um sie auf Papier einzufangen. Ich ging für diese Zeit achtsamer durch die Welt, immer auf der Suche nach einem Motiv oder Moment. Die Natur gab mir Kraft, die Natur macht einfach immer weiter, egal ob eine Pandemie tobt oder ein Krieg."

Dieses Bild von Judith Jansen bedarf wohl keiner weiteren Interpretation. (Foto: Veranstalter)

Auch Judith Jansen besann sich im Lockdown auf die Idylle ihres Gartens, der ihr zu einem Hortus conclusus wurde. Sie fing an, Dutzende von Narzissen zu zeichnen, "die dann entsprechend der Blühfolge in die Kornblüte und Puffbohnenblüte übergingen. Der Wein zeigte die ersten Blätter und Vögel fingen an die Würmer zu suchen. Es ging also weiter". Trotzdem zeigt eine Zeichnung Jansen trotzig auf einer Weltkugel stehend - "weil in die Welt durfte ich ja nicht". Auch das Gefühl einer Welle, die über die Menschheit schwappt, "musste ich bildlich darstellen". Denn es gab nicht nur die Hoffnung, gefunden in der Natur, sondern "auch ein recht mulmiges, unbestimmtes Gefühl des Unwohlseins".

"A Gaze Into Blue Deepness" nennt Nobert Haberkorn dieses Bild. (Foto: Veranstalter)

Auf vor allem eine Farbe hat sich Norbert Haberkorn, Künstler aus Poing, spezialisiert: Er behandelt die von Herdt gesetzten drei Themen eingebettet in und getragen von Blau, als Zeichen für eine Öffnung zum Leben. Er schreibt: "Blau ist die Farbe der Romantik und des geistigen Aufbruchs. Und ist daher auch verbunden mit Gefühlen wie Hoffnung, Vertrauen und dem Mut, die wichtigen Dinge im Leben in die eigene Hand zu nehmen und zu gestalten." Blau sei aber auch die Farbe des Geistigen, von Rationalität, und bedeute damit, sich von der Angst zu lösen und mit Zuversicht voranzugehen.

Jeden plagte eine andere Sehnsucht, Claudia Kluge zum Beispiel freute sich offenbar darauf, sich endlich mal wieder schick zu machen. (Foto: Veranstalter)
Verunsicherte, maskierte Kinder - doch eine Göttin wacht über sie: Auch Adam Feher hat eine hoffnungsvolle Szenerie entworfen. (Foto: Veranstalter)
Manche Skizzen bleiben aber auch ganz abstrakt, etwa diese Hommage an den Mut von Edith Steiner. (Foto: Veranstalter)

Ganz generell fällt auf, dass in der Ausstellung trotz der Pandemie die positiven Darstellungen überwiegen. Ein Ausflug mit dem VW-Bus in die Berge, großes Gartenglück, das erste abendliche Ausgehen nach dem Lockdown, die Innigkeit zwischen einer Mutter und ihrem Neugeborenen - die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Zeichenaktion haben sich sehr auf Hoffnung und Mut fokussiert.

Was all diese Beispiele zeigen: Die Sprache der Kunst ist, gerade in diesem Fall, universell verständlich. "Bei dieser Ausstellung gibt es keine Hemmschwelle, die Bilder erschließen sich jedem sofort", sagt Natalja Herdt. Die Auseinandersetzung mit einem Gegenüber sei das Besondere an Gemeinschaftsprojekten wie der Zeichenaktion: Man sei sensibilisiert für bestimmt Themen, finde eigene Antworten - und spiegle sich zugleich in denen der anderen. "Wie zwei Welten, die sich berühren und verbinden."

Die Skizzen und Zeichnungen sind durch die Bank sehr persönlich - und damit auch höchst inspirierend

Und das gilt nun eben auch für die abschließende Ausstellung: So manche Zeichnung mag nicht sonderlich professionell erscheinen - doch sehr persönlich und damit inspirierend sind sie durch die Bank. Beim Betrachten kann man stets überlegen: Was macht mir selbst Angst? Wo fasse ich meinen Mut? Wodurch schöpfe ich Hoffnung? "Das sind essentielle Fragen, die einen auf eine innere Reise schicken, sagt Herdt. Deshalb habe auch sie durch das Projekt vieles gelernt - vor allem über sich selbst.

Das schönste Ergebnis für die Künstlerin ist aber vermutlich, was Architektin Stefanie Hermann schreibt: "Der Spaß, einfach los zu zeichnen, ohne sich vorher allzu große Gedanken zu machen, hat mich dazu bewogen, die tägliche Skizze auszuweiten, und zwar auf ein komplettes Jahr." Man kann also sagen: Dieser schöne Impuls zur spielerischen Kreativität hat Wirkung gezeigt.

"Zeichenaktion 2020", Ausstellung im Atelier von Natalja Herdt, Melchior-Huber-Straße-22, 85652 Ottersberg. Vernissage am Freitag, 22. Juli, um 19 Uhr, zu sehen bis 28. Juli. Öffnungszeiten: samstags 14 bis 20 Uhr, sonntags 12 bis 18 Uhr, montags bis donnerstags 10 bis 12 sowie 18 bis 20 Uhr. Neben den bereits Genannten stellen aus: Luisa Banow, Claudia Gennutt, Wilhelm und Marianne Hoffmann, Hanna Kamal, Christine Kohl, Rita Ploch, Cécile Wanaverbecq und Sabine Woytowicz. Kontakt und weitere Infos: Natalja Herdt, erreichbar per Mail an post@nataljaherdt.de oder unter (0152) 56 19 94 61.

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