SZ-Serie: Hüter der Geschichte:Zwischen Schach und Kandinsky

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Seit 2018 ist die renommierte Kunsthistorikerin Natascha Niemeyer-Wasserer eine der drei Kreisheimatpfleger.

Von Franziska Langhammer, Zorneding

Die Historikerin Natascha Niemeyer-Wasserer, hier mit der Zornedinger Antoniuskapelle im Hintergrund. (Foto: Christian Endt)

Wie ein feines Webmuster können sich, manchmal erst rückblickend erkennbar, Bausteine des Lebens zusammenfügen zu einem großen, stimmigen Bild. Leise, oft zufällige Verästelungen sind es auch, welche Natascha Niemeyer-Wasserer dorthin geführt haben, wo sie heute ist - nicht nur beruflich. "Von Bielefeld nach Zorneding ist es ein weiter Weg", sagt sie lachend zu Beginn des Gesprächs, das durch die ganze Republik führen wird.

Geboren wird Niemeyer-Wasserer 1966 in Bielefeld. Sie wächst im Münsterland auf, mitten auf dem platten Land, wie sie sagt. Der Vater ist Exportkaufmann und reist viel durch die Welt, die Mutter ist Hausfrau und mit vier Kindern gut beschäftigt. Zu Grundschulzeiten eröffnet Natascha Niemeyer-Wasserer mit ihrer älteren Schwester eine eigene Bibliothek: Ihre 80 Bücher statten sie mit Karteikarten aus, und Freunde kommen vorbei, um die Bücher auszuleihen. "Lesen war in meiner Kindheit das Tor zur Welt für mich", sagt Niemeyer-Wasserer. Ob Hanni und Nanni, Pferdebücher, Geschichten von Christine Nöstlinger oder James Krüss, alles wird lesend verschlungen. "Mit 16 bin ich dann bei Dostojewski gelandet", sagt sie. Schnell ist ihr klar, dass sie die russischen Klassiker näher kennen lernen will, und entscheidet sich nach dem Abitur dazu, Slawistik, Kunstgeschichte und Germanistik in Hamburg zu studieren. Dazu gehört, zwei slawische Sprachen zu erlernen. Niemeyer-Wasserer entscheidet sich für Russisch und Bulgarisch.

Ein Buch aus der Kindheit führt zur Studienwahl

Auch die Wahl ihres zweiten Hauptfachs - Kunstgeschichte - hat mit den Büchern zu tun, die sie durch ihre Kindheit begleiteten. "Meine Mutter besaß einen riesigen Bildband über Künstler in aller Welt", erzählt sie. "Am liebsten schaute ich mir als Kind die Bilder von van Gogh an." Auch heute noch faszinieren sie die Originale des niederländischen Malers, die Farbauswahl, seine Pinselführung. Und so bringen sie Bücher und Bibliothek aus der Kindheit zur Verbindung Kunst und Historie. Die Seminare in Kunstgeschichte stehen im Gegensatz zur Schwere der Slawistik-Kurse. "Jalousien runter, die Dias an - das war der absolute Traum für mich", schwärmt Natascha Niemeyer-Wasserer. Später wechselt sie an die Universität in München, wo ihr ein Professor das wissenschaftliche Schreiben beibringt. Nach ihrem Studium arbeitet sie für viele Jahre in der Kunstberatung für eine Bank - neben vielen anderen Projekten.

Ende der 90er wird Niemeyer-Wasserer zur schreibenden Kunsthistorikerin: Sie verfasst innerhalb der von ihr gegründeten "Kunst für Kinder"-Reihe ihr erstes Kinderbuch, über den Künstler Wassily Kandinsky. Ein paar Jahre später, als sie mit dem betreuenden Professor ihr Dissertationsthema bespricht, schlägt dieser vor: "Wieso machen Sie nicht etwas über Kandinsky?" - ohne von ihrem Kinderbuch zu wissen. Und so promoviert Niemeyer-Wasserer 2007 über Wassily Kandinsky und die Malerei des russischen Symbolismus. "Mein Vorteil war, dass ich die russischen Texte im Original lesen konnte", so die Kunsthistorikerin. Auf diese Weise stellt sie den russischen Expressionisten im Spannungsfeld zwischen Ost und West dar.

In den Landkreis Ebersberg verschlägt es sie und ihren Mann schon 1991, da ziehen sie nach Kirchseeon, zwölf Jahre später nach Zorneding, wo sie heute wohnen. "Ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen und habe deshalb immer einen großen Bezug zu ländlich geprägten Landkreisen gehabt", sagt Niemeyer-Wasserer. Trotzdem ist es ihr wichtig, auch die Großstadt in der Nähe zu haben. Sie beschreibt das so: "Ich mag das Museum in Grafing, die Wagenbauer-Sammlung, aber ich gehe auch unglaublich gern in die Pinakothek der Moderne. Ich brauche beides."

Im Grafinger Museum bringt Natascha Niemeyer-Wasserer Kindern Kunst und Kultur nahe. (Foto: Christian Endt)

Auch auf dem Ebersberger Land kreuzen wieder Zufälle den Weg von Natascha Niemeyer-Wasserer: Das Künstler-Ehepaar Loher aus Anzing, mit dessen Nachlass sie sich befasst, hielt in den 1930er Jahren persönlichen Kontakt zu dem Verleger Reinhard Piper, der wiederum ebenfalls in engem Kontakt zu den Künstlern des Blauen Reiters wie Franz Marc stand - und Wassily Kandinsky.

2010 ist Niemeyer-Wasserer Mitgründerin der Schach- und Kulturstiftung, für welche sie regelmäßig Aufsätze verfasst und Kataloge zusammen stellt. Dadurch wird auch bei ihr das Interesse für Schach geweckt. So befasst sie sich etwa in einigen ihrer Arbeiten mit der Entwicklung des Schachspiels in der Kunstgeschichte. "Ich spiele aber auch selber mit Leidenschaft", sagt Niemeyer-Wasserer, die ebenfalls Mitglied im Schachclub Zorneding ist. Im Vordergrund steht für sie dabei jedoch nicht das Gewinnen, sondern vor allem die Ästhetik des Schachspiels.

Natascha Niemeyer-Wasserer erzählt von einem Gemälde des englischen Malers Francis Cotes, das sie zutiefst beeindruckt hat. Es zeigt zwei Adlige im Jahr 1769 beim Schach, einen Mann und eine Frau. "Damals war es üblich, dass der Mann gewinnt, als Inbegriff der Vernunft", erklärt Niemeyer-Wasserer. Wer sich auskennt mit dem Brettspiel, erkennt auf dem Bildnis eine Remis-Situation: Beide sind gleichberechtigt. "Das war unglaublich in dem damaligen Sittenbild, dass sich eine Frau so selbstbewusst gezeigt hat", so die Kunsthistorikerin. Das Werk wurde aus einer Galerie in London schließlich nach Abu Dabi verkauft - einem Land, das nicht unbedingt für das Hochhalten von Frauenrechten bekannt ist. "Das ist schon spannend, in welchen Kontext das Bild dadurch gestellt wird", sagt Niemeyer-Wasserer.

Seit April 2018 ist Natascha Niemeyer-Wasserer eine von drei Heimatpflegern des Landkreises. Das Bild zeigt sie mit ihrem Kollegen Thomas Warg sowie Sophie und Gudrun Schweisfurth (von rechts) beim Tag des offenen Denkmals 2019 in Herrmannsdorf. (Foto: Christian Endt)

Seit fast vier Jahren nun ist sie eine der drei Kreisheimatpfleger des Landkreises; eine Aufgabe, die sie mit großer Begeisterung immer wieder annimmt. "Aktuell arbeite ich an einer größeren Forschung zu den Stuck-Verzierungen in Sankt Martin in Zorneding", erzählt sie - eine rein kunsthistorische Aufgabe, bei der sie den Stuckateur der Kirche im 18. Jahrhundert ausfindig machen will.

Neben ihren zahlreichen Projekten läuft Natascha Niemeyer-Wasserer gern mal zum Entspannen, und auch das Lesen ist ihr als Hobby erhalten geblieben - derzeit schottische Krimis. "Vom sehr geschätzten Dostojewksi bin ich völlig abgekommen", sagt sie und lacht. "Jetzt interessiert mich eher Sprachwitz, eine gute Geschichte und Humor."

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