Mitten in Ebersberg:Der frühe Vogel

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Wie beschäftigt man Kinder in der Pandemie? Eine Möglichkeit ist, sie einfach zur Arbeit mitzunehmen - was erstaunliche Entwicklungen zur Folge haben kann.

Glosse von Anja Blum

Mit der Kinderbetreuung ist das ja gerade so eine Sache: Entweder geben die Eltern den Nachwuchs in eine Einrichtung oder zu Freunden und nehmen dementsprechend ein erhöhtes Infektionsrisiko in Kauf, was ja auch gesamtgesellschaftlich nicht gerade wünschenswert ist. Oder aber sie improvisieren, jonglieren, schließen Kompromisse.

So kommt es, dass ein Zwölfjähriger aus Grafing sich plötzlich vor dem Amtsgericht in Ebersberg wiederfindet. Doch keine Sorge, er ist weder der Angeklagte, noch Zeuge, sondern einfach ein unbeteiligter Zuschauer. Die Mama nämlich arbeitet als Redakteurin bei der lokalen Tagespresse - und hat den Filius kurzerhand mitgeschleppt. Schließlich weiß man bei Gericht nie auch nur ansatzweise, wie lange es dauern wird. Sagt die journalistische Erfahrung. Und der Sohn sagt: Verhandlung? Verbrecher? Ist doch spannend! Na dann.

Also sitzt man zu zweit in den ansonsten leeren Zuschauerreihen und verfolgt, wie erst ein minder schwerer Diebstahl - es geht um eine Geldbörse und ein paar Flaschen Bier - erörtert wird, dann eine Beleidigung. Im ersten Fall gibt es gar kein Urteil, sondern einen weiteren Termin mit einem weiteren Zeugen, der zweite Prozess endet wegen absolut unklarer Beweislage mit einem Freispruch. Alles in allem: eine redaktionell wenig spektakuläre Ausbeute. Aber auch das weiß man beim Amtsgericht eben nur selten im Vornherein.

Der Sohn aber ist fasziniert, selbst ohne grimmige Täter, detektivische Spurensuche und schlimme Strafen findet er die Verhandlungen superspannend. Gebannt lauscht er jedem Wort, hängt vor allem der Richterin an den Lippen und hat in der Pause jede Menge Gesprächsbedarf. "Weißt du, Mama, ganz menschlich gesagt, ich glaub, der macht grad eine schwere Zeit durch", sagt der Zwölfjährige über einen Langfinger ohne Arbeit, dafür mit Alkoholproblem. "Da sollte man schon eine milde Strafe geben." Ob sich hier wohl gerade still und heimlich ein Berufswunsch in Richtung Justiz manifestiert?

Bei Rausgehen laufen Mama und Sohn noch einem der Verteidiger über den Weg. "So früh war ich nicht bei Gericht", sagt er mit Blick auf das Kind, "Respekt!" Dann zückt er eine Visitenkarte. "Falls Du mal ein Praktikum beim Anwalt machen willst... immer gerne". Oh je, ob dieser Ausflug wohl eine gute Idee war? Wird höchste Zeit, dass die Kinder wieder in die Schule dürfen. Nicht, dass sie noch was fürs Leben lernen!

© SZ vom 22.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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