Die Pandemie hat uns alle digitalisiert. Plötzlich werden allerorten Veranstaltungen live gestreamt. Volle Bühne vor leerem Haus. Aber ist das schon alles? Ist es wirklich so einfach? Auf welche Herausforderungen stoßen Künstlerinnen und Künstler, wenn sie auf Entfernung interagieren? Welche Konzepte funktionieren gut, welche eher nicht? Was bedeutet überhaupt "künstlerische Qualität" im Digitalen? Und wie lässt sich ein multihybrides Modell am besten umsetzen?
Antworten darauf sucht derzeit das Meta Theater. Die kleine, feine Bühne in Moosach ist - dank diverser Förderungen - inzwischen technisch bestens ausgerüstet, nur eine entsprechende High-Speed-Leitung lässt noch auf sich warten. Teil des ganzen Projekts " Meta Theater #digital" ist auch eine Veranstaltungsreihe, bei der neue hybride Formate erforscht und entwickelt werden sollen. Kein Wunder, versteht sich das Haus von Axel Tangerding doch seit jeher als freies Labor, das neue Ideen entwickelt, um sie dann einzuspeisen in die Theaterszene. Und wieder hält man es mit Joseph Beuys: "Der Auftrag kommt aus der Zukunft." Sprich: Die Digitaloffensive ist nicht nur als Reaktion auf die Pandemie zu verstehen, sondern vor allem auch als Investition in eine neue Infrastruktur, die nachhaltig Wirkung zeigen soll.
Eine digitale Bühne soll es ermöglichen, neue Wege der Interaktion zu gehen
Grundlage für dieses Pilotprojekt ist eine gerade in der Entwicklung befindliche Plattform namens "UpStage". Diese digitale Bühne soll es ermöglichen, neue Wege der Interaktion zu gehen - zwischen Künstlern untereinander, aber auch mit dem Publikum. Das bedeutet in diesem Fall: Die kreativen Akteure befinden sich teils im Meta Theater, teils sind sie live aus anderen Räumen zugeschaltet. Und für die Zuschauer gilt das gleiche: Ein Teil sitzt daheim auf dem Sofa, ein Teil im Theater. So entstehen multidimensionale Abende, an denen sich diverse Ebenen kreuzen, überlagern und - im Idealfall - miteinander in Schwingung geraten. Die künstlerische Leitung hat Florian Reinhold alias Gaston übernommen, als Schauspieler, Impro-Künstler, Zauberer und Coach ohnehin ein überzeugter Grenzgänger.
Zu fünf "hybriden Improvisationsabenden voller Überraschungen" hat das Forscherteam bereits eingeladen - und damit nicht zu viel versprochen. Denn hier geschieht tatsächlich Work in Progress, das Projekt hält nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für die künstlerischen und technischen Akteure jede Menge Überraschungen parat. Um es klar zu benennen: Von Perfektion ist die Reihe "Impro Open Up-Stage" noch weit entfernt. Trotzdem lohnt es sich, dabei zu sein, denn das Publikum gewinnt hier einen tiefen Einblick in einen hochspannenden Prozess. Nach der Vorstellung werden die Zuschauer im Theater sogar darum gebeten, ihre Eindrücke zu schildern, es entspinnt sich ein anregender Diskurs zwischen Bühne, Technik und Parkett.
An diesem letzten Abend vor der Sommerpause heißt es: Poesie trifft Malerei trifft Musik trifft Magie. Aufgeführt wird eine Art hybride Nummernrevue - in der Rolle des roten Fadens: Gaston. Als Kunstfigur Jacqueline führt er durchs Programm, trägt aber auch das ein oder andere Kleinkunsthäppchen bei. Ansonsten agieren und improvisieren der Maler Max Ott, der Spontanpoet Daniel Graziadei und Lionel Dzaack, Leiter der digitalen Sparte am Pathos Theater in München. Ersterer ist in Moosach erst an einer Staffelei, später an einem Tablet zugange, die beiden Letzteren liefern ihre Beiträge via Internet ins Theater.
Die Rückwand fungiert als Bildschirm, dort sieht man Buchstaben, Gemaltes, Gefilmtes, sogar einen Avatar von Tangerding
Denn dort wird die analoge Bühne ergänzt durch eine digitalisierte Rückwand. Die Mauer fungiert als Bildschirm, auf dem einerseits der Chat mit den Onlinezuschauern zu sehen ist, und andererseits ein Teil der Kunst: Buchstaben, Gemaltes, Gefilmtes, sogar ein Avatar von Tangerding irrlichtert über die große Fläche. Applaus kommt sowohl aus der Dose als auch von den Rängen, die Zuschauer daheim senden reichlich Herzchen und Smileys.
Zunächst ergänzt Graziadei in Echtzeit die Malerei Otts mit Versen und Wortschöpfungen, auch das Publikum ist aufgerufen, "mit zu poetisieren". Inspiriert von den Pinselstrichen auf der analogen Leinwand ist die Rede vom Herz der Finsternis, von verschiedenen Farben, vom Sonnenwonnental. "Es leuchtet die Welt aus dem Bild in das Netz - und jetzt?", schreibt der unsichtbare Graziadei. Später liefert Dzaack experimentelle, meist sphärisch-atmende Sounds, man sieht seine Hände diverse Gerätschaften bedienen, irgendwann fängt Ott an, in das Video hineinzumalen. Abstrakte Gebilde entstehen, Kabel verselbständigen sich, Realität und Fiktion verschwimmen. Den dritten Akt schließlich bestreiten die beiden Künstler vor Ort: Jacqueline erfindet eine ihrer sensationellen Spontangeschichten über eine wütenden Vogel und die Entstehung der Sonne, Ott versucht, ihre Worte mit digitaler Kunst zu untermalen. Versucht, denn das Malprogramm will leider meist nicht so recht mitspielen.
Die Hauptaufgabe der Techniker: beten - dass bitte, bitte alles stabil bleibe
Überhaupt: Der ganze Theaterraum ist voller Technik, überall Computer, Kameras, Bildschirme, vier Menschen sind damit beschäftigt, all die rein- und rausgehenden Kanäle zu bedienen, aus den verschiedenen Quellen ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Ihre Hauptaufgabe aber scheint es sein, zu beten - dass bitte, bitte alles stabil bleibe. Mehrmals hakt es an diesem Abend, aber an welcher Schnittstelle genau, das ist meist nicht klar. Da zeigt sich dann: Das Modell "Pausenclown", das Gaston wunderbar beherrscht, funktioniert nur analog. Die abgehängten Zuschauer daheim klicken derweil wahrscheinlich hilflos umeinander. "Wieso sehe ich nichts???"
"Wenn das Digitale mit dem Analogen" - dann ruckelt es noch gewaltig. Nicht nur, dass die Streams in diverse Richtungen immer wieder ausfallen, auch die analoge Version des Spektakels hat ihre Tücken, vor allem, was die Größenverhältnisse und Blickachsen angeht. Die Staffelei, an der Ott zugange ist, müsste zum Beispiel größer sein, um ihm ohne Anstrengung beim Malen zusehen zu können. Andererseits verdeckt Jacqueline einen Großteil der Poesie, die wie von Zauberhand geschrieben an der Theaterrückwand erscheint. Der Abend ist also eine Herausforderung - für alle Beteiligten.
Ruhe zu bewahren lautet also das Gebot der Stunde - und aufmerksam zu sein für jene Momente, in denen das vielschichtige neue Format funktioniert. Denn diese gibt es durchaus. Wenn die Künstler sich genreübergreifend inspirieren. Wenn Sound und Bild einen gemeinsamen Sog entwickeln. Wenn das vermeintliche Scheitern ungeahnt humorvolle Szenen gebiert. Wenn grenzenlose Fantasie alle begrenzte Technik vergessen lässt. Wenn Berührungen geschehen, über Raum und Zeit hinweg. Dann stellt sich ein Zauber ein, den es zu bewahren und zu transformieren gilt, so dass er an anderen Abenden wieder wirken kann.
Die Entwickler der Plattform freuen sich über Anregungen aus dem Praxistest
"Impro Open Up-Stage" ist ein groß angelegter Lernprozess. Die Akteure wollen verstehen, wie sich mehrere Theater- und Zuschauerräume sowie analoge wie digitale Quellen verbinden lassen - und zwar gleichberechtigt. Sie wollen Wort, Bild, Bewegung und Sound synchronisieren, die Kacheln miteinander tanzen lassen. Und von ihren Erfahrungen werden viele profitieren: Das Team steht in engem Kontakt zu den Up-Stage-Entwicklern um Helen Varley, die froh sind um jede Anregung aus dem Praxistest. Gemeinsam beschreitet man den Weg in eine multihybride Zukunft der Kunst, und da gibt es noch viel zu entdecken. Im Herbst soll es deshalb weitergehen.