Lost place neu belebt:Wo die jungen Wilden wohnen

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Wildwuchs in Markt Schwaben: In der ehemaligen Gärtnerei Gerstmayer kann man die Kraft der Natur erleben - und neuerdings auch jene der Kunst. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In Markt Schwaben gibt es ein neues Areal für Kreativität: eine ehemalige Gärtnerei. Das Team von "Rena" möchte dort Kunst und Kultur aller Art einen ganz besonderen Raum bieten. Am Wochenende wird Eröffnung gefeiert.

Von Anja Blum, Markt Schwaben

Kaputte Scheiben, wucherndes Grün, Europaletten zum Sitzen und überall an den Wänden: bunte Bilder, lustige Schilder und bemaltes Interieur. Fünf Jahre lang ist die ehemalige Gärtnerei Gerstmayer in Markt Schwaben leer gestanden, doch nun kehrt dort wieder Leben ein - und was für eines. "Hier passiert Kunst!" Mit diesen Worten von Rebecca Winhart kann man das kreative Geschehen wohl auf einen Nenner bringen.

Die ehemalige Gärtnerei ist - oder besser: war - ein Lost Place mitten im Herzen von Markt Schwaben, zwischen Erdinger Straße und Friedhof. Ein großes Gelände voller Gewächshäuser, die sich die Natur nun so langsam zurückerobert. Überall zwischen dem Beton sprießt es, man sieht üppiges Unkraut wie Disteln oder Löwenzahn, dazwischen immer wieder Efeu, aber auch ganze Bäume sind im Laufe der Jahre in die Höhe geschossen. "Der eine da zum Beispiel hat letztens ganz wundervoll geblüht", freut sich Winhart, die neue Mieterin. Doch nicht nur mehrere halb zerfallene Glasbauten gehören zu dem Gärtnereigelände, sondern auch ein altes Wohnhaus und ein Verkaufsraum, in dem früher vermutlich herrliche Schnittblumen über den Tresen gingen.

Das Glas ist vielerorts gebrochen, im Laufe der Jahre sind ganze Bäume in die Höhe geschossen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)
Die meisten Gewächshäuser sind nicht öffentlich zugänglich, können aber als Kulisse für Fotos oder Videos genutzt werden. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Besitzer des Areals haben laut Winhart lange versucht, einen neuen Pächter für die Gärtnerei zu finden - ohne Erfolg. Und auch ein Paket aus Abriss und Neubau wäre offenbar problematisch: Die Gewächshäuser seien voller Asbest, erzählt die 31-Jährige. "Der steckt im Kleber zwischen den Fenstern, in all diesen Platten und vermutlich sogar schon im Boden." Deswegen müsste ein Käufer vermutlich sehr viel investieren, um das Gelände wieder in herkömmlichem Sinne nutzbar zu machen, also etwa für Wohnen oder Gewerbe.

Glücksfall: Die Eigentümer stellen das Areal kostenlos zur Verfügung

Genutzt wird es nun nämlich auch - aber eben auf sehr unkonventionelle Weise. Rebecca Winhart und ihre Freundin Natalie Ecker nämlich, zwei junge Künstlerinnen aus Markt Schwaben, hatten vor einiger Zeit die Idee, ein Abrisshaus zu bespielen - und gingen damit zum Bürgermeister. Ob er nicht ein solche Objekt in der Gemeinde kenne? Michael Stolze sei gleich ganz begeistert gewesen, erzählt Winhart, und habe Kontakt zu den Eigentümern der alten Gärtnerei hergestellt, die sich wiederum als echter Glücksfall erwiesen: Nicht nur, dass sie einer Zwischennutzung als Kunstareal sofort zustimmten, nein, sie stellen dem neuen Kollektiv die ehemalige Gärtnerei sogar kostenlos zur Verfügung. "Mindestens bis November, vielleicht auch noch länger", sagt die neue Mieterin, überglücklich strahlend. "Das ist so großzügig!"

Kreatives Trio: Elena Tengelmann, Natalie Ecker und Rebecca Winhart "wollen das Erleben und Erschaffen neuer, innovativer Kunst in den Mittelpunkt stellen". (Foto: Veranstalter)

"Real Experience New Art", kurz "Rena" heißt das Projekt, hinter dem ein ganzes Team junger Kreativer steckt. Zu Rebecca Winhart und Natalie Ecker haben sich inzwischen nämlich auch noch Elena Tengelmann und Siri Pereda gesellt, obendrein diverse Künstlerinnen und Künstler, die die ehemalige Gärtnerei mit ihren Arbeiten bereichern. Einer von ihnen ist Daniel Westermeier, besser bekannt als Mr. Woodland. Der Urban-Art-Künstler aus Erding hat sich sozusagen als Aushängeschild für das neue Kreativareal zur Verfügung gestellt, in übertragenem wie wörtlichem Sinne: Mit seinem Namen verleiht er dem Projekt Glanz, mit der Sprühdose ein hinreißendes Gesicht.

Daniel Westermeier aus Erding verleiht dem neuen Kunstareal in Markt Schwaben ein hinreißendes Gesicht. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

An diesem Vormittag steht er auf der Leiter, um seinem Wandgemälde den letzten Feinschliff zu verpassen. Die Giebelseite des alten Wohnhauses hat man dem Graffitikünstler zugedacht, eine große Fläche also, die von der gut befahrenen Erdinger Straße aus bestens zu sehen ist. "Mit so einem prominenten Platz kann man mich natürlich immer ködern", sagt Westermeier und lacht. Doch er ist vor allem hier, um das Projekt zu unterstützen. "Meiner Erfahrung nach reagiert die Gesellschaft immer sehr positiv, offen und dankbar auf solche Initiativen - aber die Politik nimmt das leider viel zu selten auf", erklärt der Künstler. "Dabei könnte so viel mehr in diese Richtung passieren, gerade in kleinen Städten."

Grafittikünstler Mr. Woodland vor seiner Arbeit mit dem Titel "Adam and Eve, the Fall". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Adam und Eva" hat sich Westermeier als Thema für die Wand in Markt Schwaben gesetzt - klar, von der Gärtnerei ist es zum Paradies gedanklich nicht mehr weit. Und ein großes Tor gibt es hier auch. "Außerdem ist das ein Motiv, das immer gut funktioniert: Mann, Frau, Apfel - das erkennt jeder", erklärt der Mann mit Cap auf dem Kopf und der Sprühdose in der Hand. Übergroß und in dunklen Farben hat er den Sündenfall in Szene gesetzt, die Bildkomposition ist perfekt zugeschnitten auf die Hauswand mit ihren zwei Fenstern. Und wer sich nur etwas Zeit nimmt, kann hier viel mehr entdecken als eine statische Momentaufnahme: Indem Westermeier seiner Eva mehrere Arme verleiht, entwirft er eine ganze Geschichte, erzählt von Neugier, Scham, Vertrauen und Zuversicht.

Sämtliche Außenflächen der Gärtnerei sollen nach und nach mit Street Art verschönert werden

Auch sämtliche anderen Außenflächen der Gärtnerei sollen nach und nach mit Street Art verschönert werden, auf einer Glaswand rechts hat sich zum Beispiel schon das Münchner Kollektiv Der blaue Vogel verewigt. "Und in den kommenden Monaten werden weitere spannende Fassadenprojekte folgen", verspricht Winhart.

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Doch nicht nur im Freien, auch im Inneren der Gärtnerei bekommt die Kunst viel Platz. In Empfang genommen wird der Besucher im ehemaligen Verkaufsraum. Der Tresen dort dient nun als Bar. Die Wände sind bemalt, in den Schaufenstern hängen schon die ersten Plakate, alte Teppiche verströmen Gemütlichkeit und die gefliesten Flächen, auf denen früher wohl allerhand Kübel mit Schnittblumen standen, bieten reichlich Sitzgelegenheit. So soll der gewölbte Raum zum Mittelpunkt des kreativen Austauschs werden. "Schön ist auch, dass wir hier einen kleinen Vorplatz haben, wir wollen nämlich wirklich zum Verweilen einladen", sagt Rena-Kompagnon Pereda.

In diesen Raum laden Natalie Ecker, Rebecca Winhart und Sidi Pereda zum kreativen Austausch und zum Verweilen ein. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die eigentlichen Ausstellungen schließlich finden statt im Wohnhaus, offizieller Veranstalter ist der neue "Aktivkreis Kunst und Kultur" der Gemeinde Markt Schwaben. Sieben Zimmer stehen in dem Haus zur Verfügung, die entweder je einem Künstler oder, bei einer Einzelschau, je einem Thema zugeordnet werden können. "Und das Tolle ist: Hier ist alles erlaubt", schwärmt Winhart. In diesem Abrisshaus könne man ganz klassisch Gemälde aufhängen - oder gleich den ganzen Raum als solches gestalten, die Wände direkt bemalen oder Installationen anbringen. "Hier auszustellen erfordert etwas Mut und Kreativität, bietet aber unglaublich viele Möglichkeiten."

Das ist der Raum von Johannes Guevara - beziehungsweise ein kolumbianischer Dschungel. (Foto: Peter Hinz-Rosin)
Risse in der Wand? Rebecca Winhart wollte aus diesem Zimmer eine Höhle machen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wichtig ist dem Rena-Team allerdings, dass der Charme der ehemaligen Gärtnerei trotz aller Kreativität erhalten bleibt. Hier soll keine stylisch renovierte Galerie entstehen, sondern eine Symbiose aus Gestern und Heute, aus Nostalgie und Kunst. "Wir wollen uns in den Bestand integrieren", so Winhart.

Außerdem für Ausstellungen zur Verfügung steht das Gewächshaus direkt an der Straße - es ist als einziges nicht so stark beschädigt. "Die anderen dürfen wir aus Haftungsgründen für öffentliche Veranstaltungen nicht nutzen", erklärt die neue Mieterin. Kreative Aktionen aber könnten dort durchaus stattfinden, die verwucherten Glasbauten eignen sich schließlich wunderbar als Location für Fotoshootings oder Filmdrehs. Und wer noch Material braucht für sein Projekt, wird möglicherweise direkt vor Ort fündig. Vom Leiterwagen über diverse Folien, Stoffe, Drähte oder Holzgestelle: In der früheren Gärtnerei hat so allerhand Zeug die Zeit überdauert.

Ungezähmt: Die Natur erobert den Raum zurück. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Generell will das junge Rena-Team "das Erleben und Erschaffen neuer, innovativer Kunst in den Mittelpunkt stellen". Zur Eröffnung des neu belebten Geländes am kommenden Wochenende werden sich denn auch gleich 14 Kreative präsentieren: Johannes Guevara, Thomas Stegmeir, Samuel Frömel, Yvonne Reber, Georg Münch, Jakob Kreitner, Katharina Lütke, Nico Erminold, Anja Birnkraut, Geraldine Frisch, das Kollektiv Sahnepüree, Sidi Pereda, Natalie Ecker und Rebecca Winhart. In der Ankündigung dazu heißt es: "Jede Künstlerin, jeder Künstler bringt nicht nur den eigenen Charakter, sondern vor allem seinen individuellen Stil mit, sodass für jeden Kunstinteressierten etwas dabei ist": von Malerei über Installation bis zum Video, Figürliches neben Abstraktem.

"Aber alles mit Niveau", betont Winhart. Hier solle es nicht um schöne Deko gehen, sondern auch mal um provokante, aufrüttelnde Themen wie Feminismus oder Nachhaltigkeit - wie sie sich ja schon allein in der neuen Zwischennutzung der ehemaligen Gärtnerei ausdrückt. Möglicherweise wird Rena auch noch weiterziehen, wenn in der Erdinger Straße einmal die Bagger anrollen sollten. "Es gibt ja noch viel mehr Leerstand, auch in Markt Schwaben", sagt die 31-Jährige.

Das junge Team glaubt "an das kulturelle, gemeinschaftliche Potential von Kunst"

Rena möchte die Gärtnerei indes nicht nur selbst bespielen, sondern "Platz für alles Kreative zur Verfügung stellen", wie Pereda es ausdrückt. Rena glaube "an das kulturelle, gemeinschaftliche Potential von Kunst". Begegnungen jeglicher Art, Konzerte, Lesungen, Projekte für Kinder oder Flüchtlinge - vieles sei möglich und auch erwünscht. "Sogar unser eigenes Bienenvolk haben wir schon!" Und tatsächlich: Emsig fliegen die Insekten rund im ihren Stock im Gewächshaus herum.

Nun aber müssen erstmal die 14 Künstlerinnen und Künstler von der Eröffnung fleißig sein, "zwei Tage Vollgas" seien angesagt, um die Gärtnerei in eine Galerie zu verwandeln, sagt Pereda. Doch eines steht bereits jetzt fest: Hier passiert Kunst. Und zwar jede Menge.

" Rena ": Ausstellung, in der ehemaligen Gärtnerei Gerstmayer in Markt Schwaben, Erdinger Straße 24, am Samstag und Sonntag, 28./29. Mai, jeweils von 13 bis 21 Uhr.

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