Schienenersatzverkehr:Odyssee im Omnibus

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Häufig sind die kleinen Schilder am Fenster die einzigen Hinweise darauf, wohin der Bus eigentlich fährt. (Foto: Christian Endt)

Seit gut einer Woche werden die S-Bahnlinien S4 und S6 im Landkreis Ebersberg weitgehend durch Busse ersetzt. Wobei: So ein richtiger Ersatz für den Zug ist das Angebot eher nicht, wie ein Selbstversuch zeigt.

Von Selina Schaefer, Ebersberg

Noch für knapp zwei Wochen ist der S-Bahn-Verkehr auf der S4/S6 im Landkreis Ebersberg größtenteils eingestellt. Über den Schienenersatzverkehr (SEV) gab es von Anfang an viel Verdruss - zu wenige Busse, zu wenig Information, zu wenig Abstand in Corona-Zeiten. Hat sich das nach gut einer Woche etwas eingespielt? Die SZ Ebersberg macht den Test.

Vor dem Truderinger Bahnhof stehen schon eine Handvoll Leute und studieren den SEV-Fahrplan, der laminiert im A4-Format um eine Metallstange befestigt ist - nicht ganz einfach, angesichts der kleingedruckten Tabelle mit zahlreichen Spalten. Aber pünktlich fahren wie im Plan angekündigt zwei Busse vor, ein roter Reisebus und ein klassischer MVV-Bus. So weit so gut. Dann jedoch wird es schwierig: Welcher von beiden ist jetzt der, der bis Zorneding durchfährt und welcher der, der zwischendrin hält? Da hilft nur fragen oder sehr genau auf die kleinen Schildchen in der Windschutzscheibe schauen, die das (bestenfalls) verkünden. Die allermeisten steigen an diesem Vormittag in den durchfahrenden Bus ein. In dem anderen sitzen nur drei weitere Fahrgäste.

Apropos fehlende Anzeige: Sollte man sich nicht auskennen, wäre es gut den Fahrplan zur Hand zu haben. Elektronische Anzeigen der Haltestellen oder wenigstens Durchsagen, welche denn als nächste kommt? Fehlen, und zwar in allen Bussen. Gronsdorf zieht entsprechend unbemerkt vorüber. Um 9.55 Uhr steigen dann in Haar ungefähr zehn Personen ein, viele wenden sich mit verwirrten Nachfragen an den Busfahrer: "Baldham?" Ja, dieser Bus fährt bis Baldham, erklärt der Busfahrer des Öfteren. Und nein, nicht zum Krankenhaus.

Mit drei Minuten Verspätung erreicht der Bus dann Vaterstetten. Wenigstens hier sagt der Busfahrer - ohne Mikrofon - die Haltestelle an und versichert einer jungen Frau, die weiter will: "Da kommt noch eine." Stellenweise durch Wohngebiet und 30er-Zonen nähert man sich schließlich pünktlich Baldham, der vorläufigen Endstation. "Das ist doch abenteuerlich", kann ein Mann beim Aussteigen nur kopfschüttelnd darüber sagen, dass der Bus nicht mal am Bahnhof selbst hält, sondern knapp 300 Meter entfernt am Ärztehaus.

Jetzt heißt es warten, auf den nächsten Bus, der hier irgendwann vorbeikommen soll. An der Gegenhaltestelle wartet derweil auch schon ein Dutzend Menschen. Eine Baldhamerin, die auf dem Weg nach München ist, bezeichnet den SEV als Ganzes "abenteuerlich". Letztens, berichtet sie, wollte sie von Haar nach Grafing fahren. Der Bus sei 35 Minuten zu spät gekommen, sei "gesteckt voll" gewesen und dann ohne Erklärung nicht mal nach Grafing gefahren, sondern woanders hin. "Das mit den Bussen ist eine Unverschämtheit", sagt die Frau. Bei einer anderen Fahrt vom Ostbahnhof nach Baldham habe sie eineinhalb Stunden gebraucht.

Auch unmittelbar vor dem Haltestellenschild beratschlagt eine Gruppe Senioren, wie der Fahrplan zu verstehen sei und welcher Weg wohl der schnellste sei. Man zeigt zwar Verständnis für die Notwendigkeit der Bauarbeiten am Gleis. Aber warum so kompliziert? Auf die Frage, ob der Bus wohl pünktlich käme, antwortet eine Seniorin auch nur lachend: "Das ist die Deutsche Bahn!" Aber da kommt der Bus auch schon. Nur drei Minuten verspätet. Überraschung hingegen auf der anderen Straßenseite: Der rote Bus nach Baldham schafft es sogar, sechs Minuten zu früh da zu sein. Zeit, mit der Busfahrerin, die eigentlich Reisebusfahrerin ist, ein wenig zu plaudern. Für die Strecke Vaterstetten nach Baldham seien im Plan 15 Minuten vorgesehen, erzählt sie - realistisch brauche man aber nur fünf. Deswegen stehe sie jetzt hier und warte.

Auch sie merke, dass die Leute mit der Situation unzufrieden seien. Die Busfahrer würden dann gelegentlich blöd angeblafft - weil sie "greifbar" seien. "Die Planung könnte schöner sein", sagt sie. "Mich strengt's an, dass ich's andauernd abkrieg'." Dennoch gebe sie sich Mühe, zu allen freundlich zu sein. Dabei haben es die Busfahrer derzeit auch nicht leicht: Deren Pläne würden zum Teil gar nicht mit den Plänen an der Haltestelle oder im Internet übereinstimmen. Die Fahrtrouten bekämen sie manchmal auch erst kurzfristig morgens ausgedruckt vorgelegt. Und wer Pech habe, müsse auch mal eine Zehn-Stunden-Schicht fahren.

Dann ist es soweit: Abfahrt nach Zorneding, wo zehn Minuten später die nächste Endstation erreicht ist, der Bus dreht hier um. Also wieder aussteigen und warten. Ein junger Mann erkundigt sich bei der Fahrerin, ob er bei ihr noch eine Fahrkarte kaufen könne? "Nein, die müssen sie am Bahnhof kaufen", antwortet die Busfahrerin freundlich. Leider liegen Bahnhof und SEV-Haltestelle manchmal gar nicht nebeneinander. Die ersten Tage dauere es, bis sich das alles mit dem SEV eingependelt habe, meint die Fahrerin, das gelte nicht nur für die Passagiere. Teilweise würden auch zwei Busse gleichzeitig dieselbe Strecke bedienen, aber nicht alle Haltestellen. Da müsse man sich absprechen, dass die Fahrgäste Zeit zum Umsteigen hätten, erklärt sie. Dann heißt es für sie auch schon weiter.

Ein paar Minuten später kommt schließlich der Bus, der bis Grafing-Bahnhof fährt. Welcher der beiden Busse das allerdings laut Fahrplan sein soll, bleibt schleierhaft. Ist er fünf Minuten zu spät oder zu früh? Egal, Hauptsache ankommen. Das denkt sich auch eine ältere Dame, die berichtet, sie sei bereits seit fast zwei Stunden unterwegs, von Neukeferloh nach Ebersberg. In Vaterstetten habe sie zuerst die Haltestelle nicht gefunden. Die Zustände empfinde sie als "furchtbar". Sechs Minuten zu früh - oder eben vier zu spät - kommt Grafing-Bahnhof in Sicht. Ein wenig wähnt man sich hier gestrandet im Niemandsland. Immerhin, die zwei Einweiser für den SEV sind sehr hilfsbereit und helfen freundlich weiter. Für die ältere Damen heißt es aber erstmal: wieder Umsteigen, in die S-Bahn diesmal. Wer mit der Bahn Richtung Ostbahnhof will, muss es sich aber noch einmal weitere 50 Minuten bequem machen.

© SZ vom 11.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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