Reise in die Vergangenheit:"Ein wahrer Schatz"

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Statt alte Klassenfotos anzusehen, kann es sich auch lohnen, durch Poesiealben zu blättern: Wie sich die Einträge im Laufe der Jahrzehnte verändert haben - und warum Männer selten solche Büchlein hatten.

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Stimmt ja, der Höpfinger Hansi war auch mit mir in der Klasse! Was, ich hab tatsächlich die Maurer Steffi auch reinschreiben lassen? Wer zu Grundschulzeiten in den Genuss eines Poesiealbums gekommen ist, kann beim Durchblättern auch Jahrzehnte später noch überrascht werden. Dass dies meist schöne Überraschungen und emotionale Reisen in die Kindheit sind, zeigt eine kleine Umfrage bei Menschen aus dem Landkreis Ebersberg.

Ganze drei Poesiealben hat Rotraut Acker vorzuweisen, die ehemalige Leiterin des Grafinger Heimatmuseums. Sie stammen aus den Jahren 1954 bis 1956 - da war sie acht, neun und zehn Jahre alt. Die Alben sind allesamt sehr schlicht gehalten. "Da stehen etliche Lehrer drinnen, die mir sehr viel bedeutet haben", sagt Acker. Mit vier Jahren durfte sie in den evangelischen Religionsunterricht, den damals, in einer Salzburger Grundschule, nur wenige Kinder besuchten. "Wir vier Kinder saßen nebeneinander in einer Bank und sind an den Lippen der Lehrerin gehangen", erzählt Rotraut Acker. "Zu Ostern war's am schönsten. Am Schluss haben wir mit ihr geheult, und einer sagte: Bitte, noch einmal." Diese Lehrerin habe sich mit einem Zitat des Reformatoren Ulrich Zwingli in ihrem Album verewigt - ohne Zeichnung und in Kurrent, einer Schreibschrift, die bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum üblich war.

Mit der Zeit wurden die Einträge dann kreativer gestaltet, es wurden Zeichnungen dazu gemalt, es gab Klebebildchen und einmal sogar einen Scherenschnitt. Natürlich habe man nicht alle reinschreiben lassen in sein Poesiealbum, sagt die Grafingerin: "Nur die, die mir lieb sind." Besonders begeistert ist sie auch heute noch von einer zweiseitigen Geschichte über Schneeglöckchen, im Dialekt geschrieben. Immer wieder zielen die Sprüche auch auf Gott ab, haben einen religiösen Hintergrund.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Einst vom Buchbinder gefertigt, hat Brigitte Binder ihr Poesie-Album bis heute aufgehoben und nie die Bindung dazu verloren.

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(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Häufigstes Stilmittel der Poesiealben sind Reime wie aus diesem Album aus dem Jahr 1935, das aus Markt Schwabens Heimatmuseum stammt,...

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

...aber auch Verse, sowie die Kraft von Fotos...

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

...und Zeichnungen wie diese einer späteren Künstlerin.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Leonie Winkelmeier (links) und Larissa Heindl, beide aus Ebersberg, haben ihre Alben ebenfalls aufgehoben.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Winkelmeiers erstes "Freundealbum" ist einst aus der Schultüte gepurzelt. An entsprechendes Material von Männern zu kommen, ist hingegen eher schwierig.

Poesiealben, so erzählt die Volkskundlerin Acker, hätten sich ursprünglich aus Stammbüchern entwickelt, die man im 15. und 16. Jahrhundert angefertigt hat. Diesen folgten Gästebücher, aus denen schließlich die Poesiealben wurden. Bereits in den 50ern war besonders die letzte Seite des Büchleins beliebt. "Wer dich lieber hat als mich, der schreibt sich hinter mich", liest Acker vor.

Viele Geschichten kommen ihr beim Durchblättern wieder in den Sinn. Etwa von dem rothaarigen Flüchtlingsmädchen, für das die Kinder in der Grundschule gesammelt haben, damit es Butter aufs Brot bekommt. "Ein wahrer Schatz" seien für sie die Alben. Über viele Lebensgeschichten der Menschen, die sich eingetragen haben, wisse sie Bescheid, manche endeten auch tragisch. Trotzdem: "Damals war das eine unbeschwerte Zeit", so Acker. Als besonders eindrücklich beschreibt sie das Zitat, das ihr Vater als allerersten Eintrag in ihr erstes Album geschrieben hat: "Bleib dir selbst treu." Dieser Spruch, so Acker, habe sie ihr Leben lang begleitet.

Zehn Jahre später als Rotraut Acker bekam Brigitte Binder aus Grafing ihr erstes Poesiealbum geschenkt. "Das war von der dritten Klasse weg, bis in die fünfte, sechste Klasse", erzählt die ehemalige Bibliothekarin. "Zu vielen habe ich noch Kontakt, aber ich erinnere mich nicht an alle." Sie erzählt, dass sie sich am Anfang kaum getraut habe, die Klassenkameraden zu fragen, ob sie in ihr Büchlein hineinschreiben wollten. Letztlich haben aber dann doch die meisten aus ihrer Klasse einen Eintrag hineingemalt, sogar die Lehrer. "Es gibt viele Sprüche, die man immer wieder liest", erzählt Brigitte Binder. Dazu zählt zum Beispiel der Klassiker "Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, nur die eine nicht, und sie heißt Vergissmeinnicht."

Brigitte Binder gibt Einblicke in ihre Alben von einst. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Ihr Poesiealbum ist beklebt und verziert mit Bildern, Gemälden, Karten und einem Foto. "Überwiegend haben Mädchen reingeschrieben", erinnert Binder sich. "Das war damals so." Auch eine Lehrerin, die immer etwas unnahbar wirkte, hat sich in ihr Poesiealbum eingetragen. "Suche immer die helle Seite aller Dinge - und wenn sie keine haben, dann reibe die dunkle, bis sie glänzt." Als Kind habe sie das erst nach mehrmaligem Lesen verstanden, so Binder. Aber gerade weil er sich nicht gereimt habe, hätte dieser Spruch sie fasziniert.

Etwa zur selben Zeit reichte Ottilie Eberl, heute Grünen-Bezirksrätin für Oberbayern und ebenfalls Grafingerin, ihr Poesie-Album an Freunde und Familie weiter. Der erste Eintrag ist vom 30. Dezember 1965. "Da war ich zwölf Jahre alt und noch in der Volksschule - das wäre jetzt die Mittelschule", erinnert sie sich. Beim Blättern in dem Album sei ihr überraschend aufgefallen, wie viele religiöse Einträge geschrieben wurden. "Und viele schöne Handschriften und schöne alte Bildchen sind drin", so Ottilie Eberl. Einen wirklichen Lieblingsspruch habe sie nicht, doch ihre Lieblingstante hat ihr Folgendes ins Album geschrieben: "Immer, wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her, dass du es noch einmal wieder zwingst, und von Sonnenschein und Freude singst, leichter trägst des Alltags harte Last, und du wieder Kraft und Mut und Glauben hast." Dieser Spruch passe zu ihrer eigenen Lebenseinstellung, und auch die Tante richte sich schon immer danach.

Im Poesie-Album von Rotraut Acker von 1954 ist ein Scherenschnitt zu finden. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Anfang der 1970er hatte auch Martina Brenner, Geschäftsstellenleiterin vom Ebersberger Kunstverein, ein Büchlein, in dem sich Bekannte wie Familienangehörige verewigten. Im Rückblick findet sie einige von ihnen sehr trivial, etwa den Klassiker: "Blüh wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein." Witzig hingegen findet die Ebersbergerin den Spruch, den ihr Bruder in schönster Kinderhandschreibschrift auf die Seiten geschwungen hat: "Wir wollen immer zusammen halten, gegen Sturm und Schicksalswalten - einander Stab und Stütze sein, das wünsch ich uns, mein Schwesterlein."

Eine neue Gestalt nahmen Poesiealben dann in den vergangenen Jahren an: Sogenannte Freundebücher waren geboren. Nicht mehr leere Seiten mussten befüllt, sondern Fragen beantwortet werden. Etwa: Lieblingsspeise? Augenfarbe? Berufswunsch? Ihr erstes Freundealbum, so erinnert sich Leonie Winkelmeier aus Ebersberg, purzelte aus der Schultüte, als sie in die erste Klasse kam. "Es haben eher Mädchen reingeschrieben", sagt die 18-Jährige. "Manche musste ich zwingen." Bis zur siebten Klasse schaute sie sich das Album noch ab und zu an, nun liegt es bei ihren alten Büchern. Auch sie selbst hat in ihr Buch geschrieben. Berufswunsch? Sängerin oder Fußballerin. "Dabei kann ich weder singen noch Fußball spielen", sagt Winkelmeier.

Larrissa Heindls Premierenbuch stammt aus ihrer Vorschulzeit 2007. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Ihre Freundin Larissa Heindl, auch aus Ebersberg, hat sogar stolze drei Poesie-Alben und zwei Freundebücher, in denen sie manchmal blättert. Das erste stammt aus ihrer Vorschulzeit im Jahr 2007. "Manche Sprüche aus den Poesiealben hat man nicht gleich verstanden", erzählt die 19-Jährige. Gefreut habe sie sich aber trotzdem immer, wenn jemand sich etwas Schönes einfallen ließ. Mit viel Zeit und Geduld, so Heindl, habe ihre Schwester ihr damals geholfen, ihren Eintrag zu schreiben. "Am liebsten esse ich: Papas Spizijalsoße mit Nudeln", steht dort etwa. "Also Bolognese", ergänzt Larissa Heindl.

Und was ist mit den Männern? Während etwa Rotraut Acker erzählt, einer ihrer Brüder habe ebenfalls ein Poesiealbum besessen - ein noch viel schöneres als das ihre -, antworten die meisten Männer auf die SZ-Anfrage kurz oder mit einem Augenzwinkern: "So einen Mädchenkram habe ich nicht." Thomas Warg, Ebersberger Stadthistoriker, beschreibt es so: "Das gab es damals natürlich schon - in der Mitte der 60er Jahre. Die Mädels hatten alle ein Poesiealbum, in der Grundschule in Zorneding. Aber wir Buben doch nicht! Wir waren harte Jungs! Wenn Du acht Jahre alt bist, dann sind Mädchen doch doof! Wenigstens offiziell. Aber wenn Dich eine Mitschülerin - die Du echt nett findest - doch bittet, in ihr Poesiealbum zu schreiben, dann tust Du das natürlich. Du kriegst also das Album und schlägst es hinten auf. Denn Du willst schreiben: "Ich hab mich hinten angewurzelt, dass niemand aus deinem Album purzelt." Aber leider hat ein guter Freund von dir diesen Satz schon vor dir auf die letzte Seite geschrieben. Aber der Freund fand offiziell Mädels doch auch doof? Also bleibt Dir keine Wahl: Du schreibst in die Mitte des Buches ein eigenes Gedicht! Leider ist nichts davon erhalten. Immerhin: Weil ja alle Jungs alles lesen konnten, was die Freunde geschrieben hatten, wurde uns allmählich klar, dass wir alle die Mädchen gar nicht so doof fanden."

© SZ vom 10.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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