Gymnasium Kirchseeon:"Ihr müsst so klingen wie reiche, arrogante Royals"

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Viele stehen zum ersten Mal vor einem Mikrofon. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wie kann man junge Menschen nach der Pandemie wieder für gemeinsames Musizieren begeistern? Ein Projekt am Gymnasium Kirchseeon zeigt, wie es geht.

Von Alexander Karam, Kirchseeon

Beim Start der Aufnahme sind die Mädchen noch etwas zurückhaltend. Auf die Frage, wer zum ersten Mal vor einem Mikro steht, heben fünf der acht Sängerinnen die Hand. Ihre Unsicherheit, die sich in Gekicher äußert, baut Musiklehrer Christoph Müller aber schnell ab: "Alles was schief klingt, löschen wir einfach."

Am Gymnasium Kirchseeon wird heute eine von insgesamt 80 Tonspuren aufgenommen, die am Ende zusammen das Stück "Music" von John Miles ergeben sollen. In einem Proberaum stehen die acht Sängerinnen vor zwei Mikrofonen, die selbst das leiseste Geräusch aufnehmen. Weil sie rascheln könnten, dürfen die Blätter mit dem Liedtext nicht in die Hand genommen werden, sondern müssen auf einem Ständer liegenbleiben. Vor dem Chor sitzt Müller zwischen Mischpult und Laptop und reißt die Arme in die Höhe, als eine Passage genau so klingt, wie er es gerne hätte: "Den Take nehmen wir!"

Die Schule verlassen, ohne ein musikalisches Abschlussprojekt? "Nicht hinnehmbar!"

Warum diese Aufnahme? Warum der ganze Aufwand für einen einzigen Song? "Ein Stück aufzunehmen, das machen wir hier zum ersten Mal", sagt Müller. Für den Musiklehrer war klar, dass mit den ersten Corona-Lockerungen auch die Musik am Gymnasium wieder zum Leben erwachen müsse. Der jetzige Abiturjahrgang hat vor zwei Jahren das letzte Mal ein Schulkonzert erlebt und mitgestaltet. Doch die Schule bald zu verlassen, ohne ein musikalisches Abschlussprojekt: "nicht hinnehmbar" für Müller.

Auch der generelle Bezug zu seinem Fach sei im Laufe der Pandemie verloren gegangen, so der Pädagoge. Kein Wunder, wenn im Online-Unterricht "nur Theorie gemacht wird und man als Highlight zum fünften Mal das Trommeln auf dem eigenen Körper übt". In der Pandemie hat also nicht nur die Kunst- und Kulturbranche sehr gelitten, auch an der Schule hätten die Einschränkungen besonders die künstlerischen Fächer getroffen, so Müller. "Wir leben nun mal vom gemeinsamen Musizieren."

Also kam Müller im Dezember 2021 die Idee für das Projekt "Music 2022" - das er sogleich initiierte. Neben der Auferstehung der Musik sei es nämlich auch wichtig, erklärt er, ein festes Ziel zu haben, auf das die Schüler hinarbeiten könnten. "Es ist toll, wieder etwas zu haben, für das man proben kann, das motiviert einen und macht richtig Spaß", sagt eine der Sängerinnen, die 16-jährige Johanna aus der elften Klasse. Für Müller ist es obendrein wichtig, wieder einen Zusammenhalt zu schaffen: "Früher gab es die Musikfahrten, aber da die wegen Corona alle weggefallen sind, muss man den Gemeinschaftssinn erst wieder aufbauen."

"Kennt ihr Downtown Abbey?"

Bei der Probe jedenfalls ist dieser schon deutlich zu spüren: Gemeinsam erreichen die Sängerinnen schwindelerregende Höhen. Nur an einer Stelle "knödelt" es in Müllers Ohren noch etwas zu sehr. Wenn man den Mund weiter aufmache, klinge es besser, lässt er seine jungen Sängerinnen wissen. "Kennt ihr Downtown Abbey? Ihr müsst so klingen wie reiche, arrogante Royals". Nach dieser Ansage dreht sich Müller extra weg, um die Mädchen nicht noch zusätzlich unter Druck zu setzen. Außerdem beruhigt er sie abermals: Die mehrmaligen Anläufe für einen Take seien normal. "Das ist bei Profis genauso."

Die Wahl des Stückes war dann nur folgerichtig. Müller fragte sich: "Was ist gut sing- und spielbar bei rund 120 Mitwirkenden?" Schließlich sollten alle drei Chöre, die Big Band, das Orchester, das Vororchester und der Wahlkurs Streicher - kurzum, das komplette musikalische Potpourri des Kirchseeoner Gymnasiums - zu dem Stück beitragen.

Die Entscheidung für John Miles' "Music" fiel schnell, denn der Song zeichnet sich aus durch starke Kontraste, hat mehrere langsame, getragene sowie schnellere Passagen. Auch die Instrumentierung ist vielfältig, zu Klavier und Leadgesang gesellen sich im Lauf des Stücks Streicher, die üblichen Stimmen einer Rockband, Bläser und ein Chor. Trotz dieser reichhaltigen Vorlage hat Müller den Song neu arrangiert, also seinen Schulensembles quasi auf den Leib geschrieben.

Nicht wenige Streicher wirken an dem Projekt "Music 2022" mit. (Foto: Gymnasium Kirchseeon/oh)

Zur Freigabe musste die Partitur nach London geschickt werden

Die Stimmen in Schulchören sind momentan vorrangig weiblich und Müller hat auch eine vage Vermutung, warum das so ist: "Das könnte daran liegen, dass sich in Stresszeiten wie der Pandemie die Jungs eher dem Sport widmen, während Mädchen dann vermehrt Interesse an künstlerischen Aktivitäten zeigen."

Das Lied aufnehmen zu dürfen, war dann jedoch nicht einfach so ohne weiteres möglich: "Die Genehmigung zu bekommen, war ein großer Aufwand", erzählt Müller. Diverse Gespräche mit dem Verlag waren nötig, außerdem musste die Partitur des Arrangements nach London geschickt werden. Erst dann gab es eine Freigabe.

Ob der Chor im Pausenhof 90 Minuten die Klassenzimmer beschallen darf?

Aber auch die Organisation innerhalb der Schule war laut Müller eine Herausforderung - vor allem wegen Corona. Um die Abstände einzuhalten, probte der Chor auf dem Pausenhof. Dafür waren Absprachen mit den Kollegen erforderlich, da die Fenster der Klassenzimmer pandemiebedingt ja offen bleiben mussten. Der Musiklehrer musste also erst einmal klären, ob sein Chor über 90 Minuten mehrere Klassenzimmer beschallen dürfe. Schließlich können Unterricht und besonders Prüfungen dadurch schon erheblich gestört werden. Auch bei den Blasinstrumenten erforderte die Hygiene aufwendige Maßnahmen: Das Kondenswasser daraus musste in einem speziellen Behältnis aufgefangen und regelmäßig infektionsschutzkonform entsorgt werden.

Kein Wunder also, dass die Kirchseeoner Musikschüler nach diesen Einschränkungen nur schwer zu normalen Umgangsformen zurückkehren können: Mehrere Menschen in einem Raum, sei es singend oder spielend - daran muss man sich auch hier erst wieder gewöhnen. "Diese Natürlichkeit und dieses Selbstverständnis sind für das Musikmachen aber dringend nötig, das müssen wir langsam wieder aufbauen", so Müller.

Die 80 einzelnen Tonspuren wird Müller dann an seinem privaten Laptop zusammenmischen, denn ein lizenziertes Programm für die Schule zu besorgen, würde noch mehr Aufwand bedeuten. Ansonsten aber sei die Zusammenarbeit problemlos, sagt der Musiklehrer: "Mit dem Projekt habe ich bei der Schule offene Türen eingerannt und von allen Seiten große Unterstützung bekommen."

Bei den Schülern hat "Music 2022" offenbar einen Nerv getroffen: "Ich singe schon seit dem Unterstufenchor - und Herr Müller ist bombe, er macht das so lebendig", schwärmt eines der Mädchen. Wenn dann die Aufnahme abgemischt ist, soll noch ein Musikvideo gedreht werden, eine große Präsentation ist beim Sommerkonzert geplant.

"Einfach bombe": Musiklehrer Christoph Müller nimmt mit seinen Ensembles einen Song von John Miles auf. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch wie sieht sie aus, Müllers Traumvorstellung vom musikalischen Leben am Gymnasium Kirchseeon? Hat er überhaupt eine? Die Musik habe es auch nach der Pandemie schwerer als die klassischen Fächer, sagt er. "Viele wollen erstmal wieder in Mathe oder Deutsch aufholen." Um wieder Begeisterung für kreative Fächer zu schaffen, sei nun besonders die Nachwuchsarbeit wichtig: "Da die älteren Leistungsträger mit dem Abitur die Schule verlassen, können sich die musikalisch noch Unerfahrenen jetzt an niemandem orientieren."

Dass die Musikstunde eigentlich schon seit einer halben Stunde vorbei ist, interessiert hier niemanden

Diese Neustrukturierung biete aber auch eine große Chance, so Müller, neue Impulse seien möglich. "Trotzdem hängt alles von der Motivation der Schüler und Schülerinnen ab." Um wieder mehr Kinder für die Musik zu begeistern, singen beim Sommerkonzert alle fünften und sechsten Klassen mit. "Wenn danach auch nur fünf Prozent in den Chor kommen, hat es sich gelohnt!"

Bei den Sängerinnen von diesem Aufnahmetag muss die Begeisterung nicht mehr geweckt werden, denn sie ist schon da: "Das klingt ja crazy!", freut sich ein Mädchen. Dass die Musikstunde eigentlich schon seit 30 Minuten vorbei ist, interessiert hier niemanden. Nur die sensiblen Mikrofone fangen Geräusche ein, die nicht auf Band gehören, und zeigen so, dass die Konzentration langsam nachlässt. "Wer schmatzt denn da?", fragt Müller in die Runde.

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