"Rassenhygiene" im Landkreis Ebersberg:Schicksale einer dunklen Zeit

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Der Ebersberger Josef Schechner wurde in der Tötungsanstalt Hartheim im gleichnamigen Schloss bei Linz in Österreich ermordet. Bei ihm hatten Ärzte Schizophrenie diagnostiziert. (Foto: privat)

Die nächste Sonderausstellung im Museum der Stadt Grafing widmen die Kuratoren den Euthanasie-Opfern im Dritten Reich. Archivar Bernhard Schäfer wendet sich mit einer Bitte an die Bevölkerung.

Von Thorsten Rienth, Grafing

Am 1. Februar 1945 erreicht die Grafinger Familie Dietl ein Telegramm mit der Todesnachricht ihres siebenjährigen Sohnes Lorenz. Absenderin ist die damalige Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Trocken teilt sie den Eltern Lorenz' "Exitus unter hohem Fieber" mit. Ein paar Tage zuvor schreiben die behandelten Ärzte einen letzten Eintrag in die Krankenakte: "Keinerlei Fortschritte mehr. Seit einigen Tagen Husten, Temperaturen, bronchitische Geräusche über beide Lungen, vereinzelt bronchiales Atmen."

"Die Beschreibung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass dem Jungen eine Überdosis Luminal verabreicht wurde", erklärt der Kreis- und Grafinger Stadtarchivar Bernhard Schäfer. Vor allem in Verbindung mit Unterernährung führe das Epilepsie-Medikament zu Atemlähmungen oder Lungenentzündungen.

Der Fall Lorenz Dietl gehört zu den gut dokumentierten von 30 Euthanasie-Morden sowie ungefähr 150 Fällen von Zwangssterilisation im Landkreis Ebersberg. In den vergangenen Jahren ist es Schäfer gelungen, die Schicksale einiger Opfer in aufwendigen Recherchen nachzuzeichnen. Darunter auch die Ermordung des Ebersbergers Josef Schechner in der Tötungsanstalt Hartheim im gleichnamigen Schloss bei Linz in Österreich fünf Jahre früher. Bei ihm hatten Ärzte Schizophrenie diagnostiziert. Die Krankheit fiel ebenfalls unter die sogenannte Rassenhygiene.

Archivar Bernhard Schäfer hat sich im Grafinger Stadtmuseum schon mehrfach dem Thema Zweiter Weltkrieg gewidmet. (Foto: Christian Endt)

Eben diesen Opfern widmet der Historiker nun die nächste Sonderausstellung im Museum der Stadt Grafing. Vom 20. Mai bis 10. September findet sie statt, kuratiert wird sie in Zusammenarbeit mit dem Historischen Verein für den Landkreis Ebersberg. Um die Ausstellung "möglichst anschaulich, aussagekräftig und umfassend gestalten zu können", wendet sich Schäfer nun mit der Bitte an die Bevölkerung, ihn mit Informationen und Unterlagen zu den Betroffenen - Bilder, Dokumente oder Hinweise beispielsweise - zu unterstützen.

Gleiches gilt für Fälle, die bislang womöglich noch unbekannt sind. "Zwar gibt es zum Beispiel im Bezirksarchiv sehr umfangreiche Zu- und Abgangsbücher der sogenannten Heilanstalten", berichtet Schäfer. Mit den Informationen lasse sich vieles rekonstruieren - aber eben nicht alles. "Bei in der Region häufigen Herkunftsangaben und Geburtsorten wie 'Haus' oder 'Öd' ist eine gesicherte Zuordnung in der Regel schwierig." Aber sie ist eben nötig, um den abstrakten Begriff der "Rassenhygiene" mit lokalen Geschehnissen - und nicht zuletzt auch Verantwortlichkeiten - greifbar zu machen.

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In die "Heilanstalt" Eglfing-Haar kam Lorenz Dietl zum Beispiel auf Anordnung eines Beamten im Bezirksfürsorgeverband Ebersberg sowie Grafinger Polizisten. Nicht immer, aber bisweilen eben doch, sind die Täter auch namentlich bekannt. Der damalige Leiter des Ebersberger Gesundheitsamts, Dr. Ernst Müller, bezeichnete den Jungen als "geistig minderwertig" und attestierte ihm "angeborenen Schwachsinn mittleren Grades". Ein Arzt aus der "Heilanstalt" klassifizierte Lorenz Dietl, was letztendlich einem Todesurteil gleich kam, als "erbkrank".

Der Vorfall, mit dem der Junge in die NS-Maschinerie gerät, hängt ausgerechnet mit dessen Hilfsbereitschaft zusammen: Lorenz' Mutter hatte im Spätsommer 1943 Badewasser für seine kleine Schwester Maria Theresia eingelassen, als es an der Tür klingelte. Die Mutter eilte dorthin, Lorenz nahm die Einjährige auf den Arm - und hievte sie in die Badewanne. Dass das Wasser noch nicht abgemischt, sondern kochend heiß war, wusste der Sechsjährige nicht. Am nächsten Tag starb das Mädchen an seinen Verbrühungen.

Gänzlich unbekannt war Lorenz Dietl den Behörden zu diesem Zeitpunkt allerdings schon nicht mehr: Im Frühjahr 1943 hatte sich eine Nachbarin mit dem Hinweis ans Ebersberger Gesundheitsamt gewandt, dass mit dem Jungen etwas nicht stimme.

Material oder Hinweise zu Euthanasie-Opfern im Landkreis Ebersberg nimmt Bernhard Schäfer unter der Telefonnummer (08092) 7031131 oder der E-Mail-Adresse bernhard.schaefer@grafing.de dankbar entgegen.

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