Kultur in Ebersberg:Was dem Auge schmeichelt und trotzdem das Hirn bewegt

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Ronald Anzenberger hat einen Käfig aus Eis gebaut. Bis der Vogel darin endlich frei ist, dauert es eine quälende knappe halbe Stunde. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Jahresausstellung des Kunstvereins ist der "Grenzverschiebung" gewidmet und verhandelt allerhand essenzielle Themen wie Krieg, Sexualität, Tod, Kapitalismus und Naturschutz.

Von Anja Blum, Ebersberg

Mit einem echten Highlight startet der Kunstverein Ebersberg in das neue Jahr: mit einer Jahresausstellung zu einem hervorragend gewählten, spannenden Thema. Und die jurierte Schau ist zugleich ein Rekord: Diesmal gab es 453 Einreichungen von nationalen und internationalen Künstlern. Die fünfköpfige Jury hatte dementsprechend viel Arbeit - rund 800 Werke aus allen Bereichen der Bildenden Kunst galt es zu bewerten.

Worin dieser immense Zuspruch begründet liegt? Darin, dass der Kunstverein diesmal ein Pilotprojekt gestartet hat: Die Bewerbungen konnten erstmals digital eingereicht werden. Ein solches Verfahren kommt den Künstlerinnen und Künstlern freilich entgegen, denn es erspart ihnen jede Menge Aufwand und auch Kosten für die postalische Einsendung. Umso größer ist also die Bereitschaft, an einer Ausschreibung teilzunehmen. Für die Verantwortlichen in Ebersberg aber bedeutete der neue Service Hunderte Stunden Ehrenamt - etwas, was es laut Projektleiterin Angelika Oedingen das nächste Mal einzudämmen gilt. "Digital ist gut, aber wir müssen uns für 2025 was einfallen lassen, um nicht wieder derart überrannt zu werden", sagt sie.

Hatte grenzwertig viel Arbeit: Die Jury aus Luci Ott, Rasso Rottenfusser, Michael von Brentano, Frauke Schreiner und Olena Balun (von links). (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch die Jury - bestehend aus Olena Balun vom Kunstverein Rosenheim, Michael von Brentano, Luci Ott sowie Frauke Schreiner vom Ebersberger Kunstverein und dem hier verwurzelten Münchner Künstler Rasso Rottenfusser - hat ganze Arbeit geleistet. Sie hat 37 Künstlerinnen und Künstler ausgewählt, 22 davon stammen aus Bayern, aber auch aus Berlin, Wien oder Köln sind welche dabei, und die Nationalitäten sind so bunt wie die Palette eines Malers. Und nun ist erst einmal Durchschnaufen angesagt: Die Ausstellung in der Alten Brennerei im Klosterbauhof steht - am Freitag, 19. Januar, wird Vernissage gefeiert und der Kunstpreis des Landkreises vergeben. Die 2000 Euro schwere Auszeichnung stiftet die Kreissparkasse.

Das Thema, das der Kunstverein Ebersberg heuer gesetzt hat, ist durchaus vielschichtig. Es lautet "Grenzverschiebung". Ein Begriff, der sowohl geografisch, räumlich, als auch politisch, moralisch oder ethisch verstanden werden kann. Grenzen können Strukturen genauso sein wie Regeln. In der Ausschreibung heißt es: "Das Verschieben von Grenzen, ob in gesellschaftlicher, politischer, kultureller, ökonomischer, wissenschaftlicher oder persönlicher Hinsicht, evoziert nicht selten Konflikte. Die Gegenwart ist davon in vielerlei Hinsicht geprägt." Krisen und Konflikte, sich verändernde Sichtweisen und Haltungen führten zu Umbrüchen, Veränderungen, Grenzverschiebungen. Viel sei derzeit in Bewegung. Der Kunstverein wollte also wissen: "Wie nehmen Künstlerinnen und Künstler diese Entwicklungen wahr? Was haben sie dazu zu sagen? Welchen Einfluss haben die gegenwärtigen Grenzverschiebungen auf ihr Leben und Werk?"

Michael Lukas löst malend die territorialen Grenzen auf - so will er "eine Möglichkeit des symbiotischen Miteinanders zeigen". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bei vielen Arbeiten, die nun in der Alten Brennerei ausgestellt sind, erschließt sich der Bezug zum Thema sofort. Peter Kees zum Beispiel wurde zum Dieb und zum Schmuggler: In Tschechien hat er ein Grenzschild abmontiert, außerdem brachte er heimlich drei Kanister Treibstoff mit nach Hause. Seine Installation soll eine Kritik am Kapitalismus sein, zu dessen unschönen Blüten der Schwarzhandel zählt. Ein interaktives Spielzeug hat hingegen Anastasiia Batishcheva beigesteuert: ein Schiebepuzzle. Dessen Motiv basiert auf einer Mauer, die die Künstlerin 2020 in Charkiw entdeckt hat. Präsentiert wird die kleine 3D-Skulptur auf einem Betonmodul, das ebenfalls aus der Ukraine stammt.

Mit gleich zwei eigenständigen Arbeiten ist Carolin Wenzel vertreten. Sofort ins Auge sticht ihre Installation "Rot-weiss": eine Stickerei mit Absperrband auf einer bedruckten Kunststoffplane. Ganz altmodisch verschnörkelt schreibt das Band groß das Wort "Verzeihung" an die Wand, nach unten hin aber verselbstständigt es sich zunehmend. Etwas weniger spektakulär, aber nicht minder vielschichtig ist die Fotografie "Cidreira": Aufgenommen in einem kleinen Küstenort in Südbrasilien zeigt das Bild Blumenopfer, die einer Meeresgöttin dargeboten und von den Wellen wieder zurück an den Strand gespült wurden. Nun bilden sie eine leicht verstörende Grenze zwischen Wasser und Land.

Carolin Wenzel aus München hat mit Absperrband gestickt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Stark vertreten ist in der Jahresausstellung der Bereich Video, es gibt fünf Filme zu sehen. Anas Kahal etwa, geboren in Damaskus, setzt sich mit dem syrischen Krieg auseinander. Unter dem Titel "Augenblick" lässt er eine knappe halbe Stunde lang Menschen von den Gründen für ihre Flucht und ihren Erlebnissen währenddessen erzählen. Gezeigt werden aber nur die Augen der Gesprächspartner. Im Vordergrund steht der erschütternde Inhalt.

Ebenfalls schwere Kost bietet Sarai Meyron. Sie untersucht in ihrer Videoinstallation die zionistische Ideologie, die maßgeblich zur Gründung Israels beigetragen hat. Dabei stellt sie den Zionismus selbst dar - als zweideutige Figur, jung und erwachsen, weiblich wie männlich. "Mit diesem Video versuche ich, die Ideologie meiner Familie zu verstehen, und gleichzeitig meine eigene politische Kritik daran zum Ausdruck zu bringen", schreibt die Künstlerin.

"Letzte Dusche in der Bürgerstraße 10" heißt dieses Selbstporträt in Ölfarbe und Buntstift von Eden Nael Liedtke. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Um Geschlechtergrenzen geht es bei Eden Nael Liedtke. Ein Selbstporträt dokumentiert seine gesellschaftliche wie medizinische Angleichung als Transmann. Er habe das Bild vor seiner Mastektomie (Entfernung der Brust) begonnen, schreibt der Künstler. Es zeigt also einen Körper, der weder klar weiblich noch männlich gelesen werden kann und somit Inbegriff einer gesellschaftlichen Grenzüberschreitung ist. Dem Protagonisten ist seine innere Bewegung angesichts dieses einschneidenden Prozesses deutlich anzusehen.

"Von der Poesie des ältesten Gewerbes" wiederum erzählt Caro Dirscherl. Ihr entsprechendes Fotoprojekt zeigt Menschen, die freiwillig und selbstbestimmt in der Prostitution arbeiten. "Ich habe die unterschiedlichsten Lebens- und Liebeskonzepte, Menschen jeglicher geschlechtlicher Identität und jeden Alters kennengelernt, die mir viel Offenheit und Vertrauen entgegenbrachten. Ausnahmslos alle wünschen sich eine Entstigmatisierung ihrer Arbeit", so die Künstlerin.

Caro Dirscherls Fotoprojekt steht für eine Vielzahl von moralischen und ethischen Grenzverschiebungen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Höchst emotional ist auch Eleonora Dammes Werk "Mutterseelenallein" - es sei der Versuch einer Vergegenständlichung des einschneidendsten Moments ihres Lebens, schreibt die Künstlerin. "Der Moment, als meine Mutter starb. Das Bild zeigt sie und mich auf ihrem Krankenbett kurz nach ihrem letzten Atemzug." In diesem Moment hätten sich die Grenzen des physisch Fassbaren und des immateriell Seelischen verschoben und überlagert. "Das Ende von Existenz zeigt der Menschheit ihre klare unüberwindbare Grenze von Macht, Größe und Wissen. Sie ist von uns nicht verschiebbar, aber wenn sie erreicht wird, erscheint sie nicht als harte Linie, nicht klar umrissen, sondern wie ein alles einnehmender diffuser Nebel."

Diesen unfassbar gekonnten Linolschnitt hat Eleonora Damme den Tod ihrer Mutter gewidmet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Eine kaum zu übersehende Arbeit hat Mariella Maier eingereicht, Titel: "Open Source". Es handelt sich dabei um einen drei Meter hohen Turm aus Papiersteinen, die aus 648 zerstörten Akten des Europäischen Patentamts gepresst wurden. Die Künstlerin schreibt: "Das Patentieren von Ideen soll die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen gewährleisten und Menschen zu neuen Erfindungen anspornen, die dem gesellschaftlichen Wohl dienen sollen. Doch wo liegt die Grenze zwischen dem Profit Einzelner und dem Allgemeinnutzen?"

Aus geschredderten Ideen besteht der Turm von Mariella Maier. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Aktuell leben wir in einer Zeit umfangreicher Transformationen", schreibt Susanne Immer. Ihr mehrteiliges Werk "Auf-Lösung" ist denn auch dem Wandel im zeitlichen Verlauf gewidmet: Die Künstlerin hat kleine weiße Leinwände mit bunten Gummiringen bespannt - und zwar mit solchen, die dem Druck nicht lange standhalten, sondern irgendwann unkontrolliert reißen werden. Die geordneten Strukturen lösen sich auf. Eine hübsche Parabel auf so manchen gesellschaftlichen Vorgang.

Um "die wässrigen moralischen und ethischen Grenzen, mit denen wir unsere Beziehungen zu anderen Tieren definieren" geht es Claude Jones. Ihre Skulpturen vereinen Elemente verschiedener Spezies und sollen so den transformierenden Einfluss menschlichen Eingreifens in die natürliche Ordnung widerspiegeln.

Hase trifft Reh: Claude Jones' Skulptur aus Keramik, Polymer-Ton, Acrylfarbe, Fell und Lack heißt "Fragile nature". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Krieg, Flucht, Sexualität, Tod, Profit oder Naturschutz: Diese Jahresausstellung verhandelt essenzielle Themen. Zeigt Kunst, die engagiert ist und kritisch. Die dem Auge schmeichelt und trotzdem das Hirn bewegt. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.

"Grenzverschiebung": Jahresausstellung des Kunstvereins Ebersberg, Vernissage am Freitag, 19. Januar, um 19 Uhr, Führungen am Sonntag, 28. Januar, um 11 Uhr, am Freitag, 2. Februar, um 17 Uhr und am Samstag, 10. Februar, um 19 Uhr. Am Sonntag, 11. Februar, um 11 Uhr Künstlergespräch und Finissage. Öffnungszeiten: donnerstags und freitags von 18 bis 20 Uhr, samstags 17 bis 20 Uhr sowie sonntags von 11 bis 13 Uhr.

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