Arkadien-Festival in Ebersberg:Kleine Störungen im System

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Peter Kees (Mitte) lässt zusammen mit dem Voyager Quartet und dem Modern String Quartet die Autoren Aldous Huxley und George Orwell bei einer musikalischen Lesung aufeinandertreffen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In der Performance "Schöne neue Welt" bringt Peter Kees in einem angeregten inneren Dialog zur Sprache, was unsere Gesellschaft bewegt und verändert.

Von Ulrich Pfaffenberger, Ebersberg

Künstlerische Freiheit ist ein großzügiges Geschenk. Unter ihrem Schutzschirm lassen sich grandiose Dummheiten genauso produzieren wie gewinnende Gescheitheiten. In die zweite Kategorie fällt die Performance "Schöne neue Welt", die Peter Kees in Personalunion von Produzent, Autor, Regisseur und Rezitator am vergangenen Freitag auf die Bühne des Festivals Arkadien #3 gebracht hat. In seiner "Theatralen Versuchsanordnung", durch die ihn das Voyager Quartet und das Modern String Quartet begleiten, lässt er in einem angeregten Disput die Autoren Aldous Huxley und George Orwell aufeinandertreffen, beide einig, was das Scheitern bisheriger Gesellschaftsmodelle angeht, aber uneins, auf welchem Weg und mit welchen Mittel künftiges Scheitern verhindert und die Menschheit glücklich gemacht werden soll. "Gemacht" steht dabei bewusst im Passiv, denn, auch da sind sich die beiden einig, aus eigener Kraft wird sich Homo Sapiens nicht aus dem Sumpf befreien können, in den er sich mutwillig hineingeritten hat.

Respekt vor der Fähigkeit von Autor und Rezitator Kees, die Irrungen, Wirrungen, Hoffnungen und Bestrebungen des Menschengeschlechts mit maximaler Nüchternheit zu beleuchten. Indem er als neutraler Bote agiert, der nur wiedergibt, was seine Zitierten gedacht und umgewälzt haben, arbeitet er wie ein Bildhauer, der den Kern der Botschaft unbeirrt freilegt: "Erlösung? Es geht immer nur um die Machtfrage." Oder: "Bücher sind schreckliches Zeug. Sie bringen die Menschen auf seltsame Gedanken." Oder: "Kunst ist überflüssig." Provokante Aussagen, die im inneren Dialog der Performance ihre Schärfe verlieren und zum Gegenstand von Für und Wider werden, ohne Anspruch auf richtig oder falsch aber mit der Pflicht, sie nicht ungeprüft im Raum stehen zu lassen. Das ist unglaublich spannend und man wünscht sich, öfter an solchen Auseinandersetzungen teilzuhaben.

Kees spielt Vernunft und Emotionen gegeneinander aus

Richard Wagner und König Ludwig ergänzen in diesem Szenario die Besetzungsliste, ebenso wie ein beliebiges Durchschnittsehepaar dieser Tage. Die einen sind für die mystischen und visionären Elemente zuständig, die anderen für den vermeintlich glückserfüllten Alltag zwischen Mähroboter, Lieferservice, Opportunismus und Gleichgültigkeit. Kees reitet durch die Gesellschaft mit ihren moralischen und juristischen Hürden, stellt Fortschritt in Frage und Nostalgie in den Senkel, spielt Vernunft und Emotionen gegeneinander aus - vor allem aber hinterlässt er den Eindruck, dass er sich in der Gestaltung seines Opus inspirieren ließ von jenen, die sich in unserer Vergangenheit darüber Gedanken gemacht haben, wie wir in der Gegenwart wohl mit unserer absehbaren Zukunft zurechtkommen werden. "Aus dem Vollen schöpfen" nennt man das wohl und entsprechend nährreich fallen die 80 Minuten aus, die das vollbesetzte Haus neugierig, überrascht und angeregt inhaliert.

Nicht zu vergessen: Auch wenn das gesprochene Wort die tragende Rolle in dieser Performance innehat, ist es die Musik, die imaginäre Kulissen und Beleuchtung auf die Bühne bringt. Wie in einem guten Spielfilm lenkt sie zwar die Gefühle des Publikums, reizt aber auch zum Widerspruch. Wagner liefert da gutes Futter, zumal in Momentaufnahmen: "Siegfrieds Tod", so stanzt Kees es in den Raum, "ist der Untergang der Weltordnung." Wobei in der Obertonreihe die Frage mitklingt: Wie viele Siegfrieds gibt es? Und welcher davon ist der meine?

Als gelungener Schachzug erweist sich die Koppelung der beiden Streichquartette, ausgerechnet, Freunde des Genres werden schmunzeln, mit der Bratsche als Scharnier, jenem oft unterschätzen, mitunter ignorierten Wegbegleiter im vierstimmigen Miteinander. Gerade in jenen Momenten, in den Mystik und Fantasie einander bedeutungsschwer um den Hals fallen oder die Tiefen menschlichen Daseins ausloten, erweist sich die Viola an diesem Abend als Spenderin erneuerbarer dramatischer Energie. Zugleich werden die wechselvollen Saitenklänge zur universell verständlichen Übersetzung dessen, was Huxley und Orwell verbindet: "Die eine Welt vergeht, während eine neue entsteht." Eine Aufgabe für die Menschen, keine Drohung, davon spricht die Musik.

Zwischendrin wird der Veranstaltungsort selbst zum Mitwirkenden - wenn auch unfreiwillig

Sie stößt auch die Frage aus: Kann eine "schöne neue Welt" mit Dissonanzen leben? Folgt man der Dramaturgie dieser Performance, kann, soll und wird sie. Es sind nur wenige Sekunden im Zusammenspiel der beiden Streichquartette, in denen sie die gemeinsame Linie verlieren. Zuerst hörbar, dann an den Mienen der Beteiligten auch sichtbar. Schnell finden sie wieder zusammen, im späteren Gespräch erschließt sich der Grund: Es ist der Hall, der sich seinen eigenen Weg durch den Korpus der Alten Brennerei sucht und das geradlinige, abgestimmte Spiel ins Vibrieren bringt. Soll man sich als Musikfreund nun daran stören? Oder doch dankbar sein, dass selbst hochklassige Spezialisten nicht dagegen gefeit sind, beim konzertanten Vollzug der Idealwelt ein Quäntchen Unvollkommenheit zu zeigen? Es sind solche kleinen Störungen im System, die noch jeder Utopie ihre Grenzen zeigen, jeder DIN-Vorschrift ihre Fehlbarkeit entlocken und jedem übersteigertem Ego eine Teppichfalte in den Weg legen. Kurzum: Götterdämmerung.

Je länger man den mit Weisheit und Bedacht von Kees zusammengetragenen Gedanken folgt, je stärker man sich von seiner unaufgeregten Diskussion mit den darin enthaltenen Widersprüchen und Bekräftigungen tragen lässt, je nachhaltiger dadurch eigene Überlegungen und Ideen reifen - umso größer wird das Bewusstsein dafür, wie arg man derlei in der öffentlichen Auseinandersetzung mit kritischen Themen vermisst. Besonnenheit statt Wortgewitter, Sorgfalt statt Schnellschuss, Konzentration statt Krawall: Welcher Gewinn wäre es für die allgemeine Denk- und Sprechfähigkeit, ersetzten Kees'sche, leuchtende innere Dialoge die verdunkelten Plappereien von TV-Talkshows. Befreit von Ideologen und falschen Propheten, von Möchtegern-Philosophie und Schein-Prominenz bliebe eine einzige Einflussnahme: geistige Anregung. Uns ist bewusst, warum uns dieses wichtige Lebensmittel zusehends entzogen wird zugunsten einer "Schöne Neue Welt"-Fassade, die nicht mehr ist als eine hohle Nummer. Die Füllung gibt es wohl nur noch in Arkadien.

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