Pflegefamilien:Zehn Rettungsanker für den Landkreis

Lesezeit: 3 min

Häusliche Gewalt oder überforderte Eltern: Die Gründe, warum das Ebersberger Jugendamt Kinder in Pflegefamilien geben muss, sind vielfältig. (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

In Ebersberg gibt es mehrere Bereitschaftspflegefamilien, die kurzfristig vom Jugendamt vermittelte Kinder aufnehmen. Weil die Eltern immer häufiger mit der Erziehung überfordert sind, ist der Bedarf dafür in den vergangenen beiden Jahren enorm gestiegen.

Von Andreas Junkmann, Ebersberg

An einen Fall kann sich Susanne Müller-Hertling noch ganz genau erinnern. Es war an einem Samstagabend, als sie und ihre Kollegen vom Jugendamt zusammen mit der Polizei zu einer Wohnung im Landkreis gefahren sind. "Wir haben die Familie in einem desolaten Zustand aufgefunden", erzählte Müller-Hertling den Ebersberger Kreisräten in der jüngsten Sitzung des Jugendhilfeausschusses. In der Wohnung habe ein solches Chaos geherrscht, dass die Kinder nicht mal in ihren Betten schlafen konnten. Die Eltern haben derweil miteinander gestritten, beide waren betrunken. "Uns blieb also nichts anderes übrig, als die drei Kinder mitzunehmen." Sie kamen in die Obhut einer Bereitschaftspflegefamilie.

Zehn solcher Familien gibt es derzeit im Landkreis Ebersberg, die sich bereiterklärt haben, auch sehr kurzfristig Kinder bei ihnen aufzunehmen. Für viele dieser Heranwachsenden sind sie der letzte Rettungsanker in einer akuten Notsituation. "Es ist ein großer Einsatz, den die Pflegefamilien leisten", sagte deshalb auch Susanne Müller-Hertling. Zumal sich die Fälle, bei denen das Jugendamt eingreifen muss, in den vergangenen beiden Jahren häufen. Müller-Hertling spricht gar von einer "massiven Zunahme". Während der Corona-Zeit seien sie und ihre Kollegen oft gefragt worden, ob sie nun mehr Arbeit hätten. Das sei damals aber nicht der Fall gewesen. "Aber ich habe das Gefühl, jetzt kommt gerade die große Welle", sagte die Jugendamtsmitarbeiterin.

Mädchen müssen häufiger in Pflegefamilien untergebracht werden als Jungen

Tatsächlich lässt sich dieses Gefühl auch anhand von Zahlen belegen. Mussten im Landkreis Ebersberg 2018 lediglich neun Kinder bei einer Pflegefamilie untergebracht werden, waren es 2021 bereits 19 solcher Fälle. Der große Sprung kommt dann zum Jahr 2021, als 27 Heranwachsende in Obhut gegeben wurden. 2023 schließlich hat das Landratsamt 32 solcher Unterbringungen registriert. In neun Fällen handelte es sich um Babys oder Kleinkinder, ebenfalls neunmal waren Schulkinder betroffen und 14 Mal mussten Jugendliche in eine Pflegefamilie gebracht werden. Müller-Hertling zufolge sind dabei Mädchen häufiger betroffen als Jungen.

Die Gründe, warum das Jugendamt eingreifen muss, sind vielfältig. Meist geht es aber um Situationen, bei denen die Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. "Ein großes Problem sind psychisch instabile Mütter", so Müller-Hertling. Entsprechende Fälle würden in jüngster Zeit immer öfter auftreten. Wenn die Heranwachsenden dann nicht zum Vater oder einem anderen Angehörigen gebracht werden können, müssen die Pflegefamilien einspringen. Diese sind über den kompletten Landkreis verteilt und haben jeweils verschiedene Aufnahmeprofile: Manche nehmen lieber Jugendliche, andere bevorzugen eher kleinere Kinder. Für Müller-Hertling ist diese "Spezialisierung" ein großer Vorteil, denn so bekämen die Betroffenen auch eine individuelle Betreuung in den Familien. "Das gibt den Kindern viel Stabilität", sagte die Expertin vom Jugendamt.

SZ PlusKriminalität im Landkreis
:Mehr Arbeit für das Amtsgericht

Die Zahl der zu verhandelnden Straftaten in der Ebersberger Justizbehörde ist im vergangenen Jahr gestiegen. Rückschlüsse auf die allgemeine Entwicklung der Kriminalität im Landkreis lässt das jedoch nicht zu - mit einer Ausnahme.

Von Andreas Junkmann

Ihre Behörde ist es, die während der Betreuung klären muss, wie es mit den Kindern und Jugendlichen danach weitergeht. Ziel sei, dass sie nur möglichst kurze Zeit bei den Pflegefamilien verbringen und dann wieder in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren können. Doch das klappt nicht immer. Die Unterbringung dauere manchmal nur einige Tage, manchmal aber auch mehrere Monate, so Müller-Hertling. In einigen besonders schweren Fällen kehren die Kinder auch gar nicht mehr in ihre ursprünglichen Familien zurück, sondern müssen in eine Betreuungseinrichtung gegeben werden.

Das Jugendamt greift keineswegs willkürlich bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen ein, im Gegenteil: Wann ein Heranwachsender in eine Pflegefamilie gegeben werden muss, ist über das Sozialgesetzbuch geregelt. Demnach wird die Behörde dann aktiv, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes besteht oder es selbst um Obhut bittet. Die Bereitschaftspflegefamilien wiederum sind nicht verpflichtet, jedes Kind bei sich aufzunehmen. "Das ist nicht über einen Vertrag geregelt, die machen das freiwillig", erklärte Müller-Hertling. Als Entschädigung bekommen die Familien vom Landratsamt einen Kostenbeitrag in Höhe von 83,84 Euro pro Tag.

Das Landratsamt sucht dringend nach weiteren Familien, die Kinder bei sich aufnehmen

Dieser Satz dürfte nach Meinung einiger Kreisräte gerne noch etwas höher ausfallen. "Ich bin dafür, das wirklich ordentlich zu bezahlen", sagte etwa Franz Greithanner (Grüne), der die "wichtige Arbeit" lobte, die die Pflegefamilien leisten würden. Auch Landrat Robert Niedergesäß (CSU) fand anerkennende Worte für deren Einsatz. Die Familien seien "ein wichtiger Mosaikstein" und ein gutes Beispiel dafür, wie die Arbeit des Jugendamtes vor Ort sichtbar gemacht werden könne. Dessen Leiter, Florian Robida, ist ebenfalls froh, auf die Pflegefamilien zurückgreifen zu können. "Das sind sehr verlässliche Familien, die machen das ganz toll", sagte er.

So engagiert die derzeit im Landkreis aktiven zehn Pflegefamilien aber auch sind, so sehr stoßen sie inzwischen an ihre Kapazitätsgrenzen. Eigentlich sei nach einer Unterbringung stets eine Belegungspause vorgesehen, um die Familien zu entlasten und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich emotionalen Abstand zu verschaffen, wie es vom Jugendamt heißt. Doch wegen des hohen Bedarfes werden diese Pausen immer kürzer. Am Landratsamt ist man deshalb händeringend auf der Suche nach weiteren Pflegefamilien, die bereit sind, in Not geratenen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Denn Susanne Müller-Hertling ist sich sicher: "Die Fälle werden in den nächsten Jahren weiter steigen."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGewalt in Beziehungen
:Wenn aus Liebe Terror wird

Häusliche Gewalt ist seit Corona ein großes Thema. Auch Steffi K. hat solche erfahren. Trotz der zahlreichen Übergriffe schafft sie es erst nach Jahren, sich von ihrem Peiniger zu trennen.

Von Franziska Langhammer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: