Kunst:"Das Floß der Medusa" kreuzt "Die Freiheit führt das Volk"

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Pit Kinzer ist ein Meister des Zitats, seine surrealen Collagen greifen unter anderem ikonische Gemälde auf. (Foto: Christian Endt)

"Gesichte" nennen Daniela Kammerer, Pit Kinzer und Ingo Lie ihre gemeinsame Ausstellung. Über Traumbilder, Ahnungen und Hirngespinste.

Von Anja Blum, Ebersberg

Falls es jemand nicht wissen sollte: Das Wort "Gesichte" ist mitnichten ein verunglückter Plural für die gängige Bezeichnung des menschlichen Antlitzes, nein, sondern ein veraltetes Synonym für "Visionen" - in einem eher mystischen Sinne. Wer Gesichte hat, besitzt die Fähigkeit, möglicherweise Zukünftiges oder gar Diesseitiges zu sehen. Die drei Künstler, die ihre gemeinsame Ausstellung beim Ebersberger Kunstverein mit dem Titel "Gesichte" überschrieben haben, sind allerdings alles andere als altmodisch: Obwohl zwei von ihnen "bereits eine Sieben vorne dran haben", zeigen sie ausschließlich digitale Werke. Also Kunst, die am Computer entstanden ist. Großformatig ausgedruckt steht sie der Malerei allerdings in nichts nach, das sei schon mal verraten.

Pit Kinzer, Ingo Lie und Daniela Kammerer widmen sich Porträts und Visionen. (Foto: Christian Endt)

Daniela Kammerer, Pit Kinzer und Ingo Lie haben sich zusammengetan - trotz etlicher persönlicher Querverbindungen ist diese Besetzung eine Premiere - um dem Publikum Porträts und künstlerische Visionen zu präsentieren. Es geht dabei also um das äußere und das innere Gesicht, denn ein solches zu haben "bedeutet nicht nur, das, was jeder hat, offen nach außen (zur Schau) zu tragen, es meint auch das, was wir uns sozusagen hinter dem Gesicht im Inneren ausdenken: Traumbilder, Ahnungen, Hirngespinste, Utopien", schreibt das Trio. Kammerer, Kinzer und Lie bringen dabei drei künstlerische Positionen in unterschiedlichen Techniken zusammen: Malerei, Zeichnung und Fotografie.

Mit jedem Durchgang in der Ebersberger Galerie betritt man eine andere, neue Welt

Das Konzept der Hängung in der Galerie Alte Brennerei ist denkbar einfach. Es lautet: ein Raum pro Künstler beziehungsweise Künstlerin. Die Werke hängen also nicht direkt nebeneinander, vielmehr betritt man mit jedem Durchgang eine andere Welt. So ist jedem der drei Kreativen auch im übertragenen Sinne Raum gegeben. Ihre Arbeiten können für sich wirken - treten aufgrund der Nähe aber freilich auch mit den anderen in Verbindung. Dabei tritt das gemeinsame Thema, die "Gesichte", durchaus deutlich vor Augen.

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Von Anja Blum

Los geht es im ersten Raum mit Pit Kinzer. Der Allgäuer ist ein Meister des Zitats. In seinen großformatigen Fotocollagen, am PC entworfen, mixt er Darstellungen quer durch die Zeit und die Genres. Ikonische Gemälde treffen hier auf Bilder aus dem Familienalbum, auf historische Aufnahmen und solche, die Kinzer selbst erstellt. Dabei wiederum handelt es sich in erster Linie um Figuren für Modelleisenbahnen, die der Künstler als "Gernegroß-Models" bezeichnet und immer wieder in neue Kontexte stellt. Aber er zeigt auch Porträts von diesen Miniaturmenschen, deren Kopf kleiner ist als ein Stecknadelkopf. Trotzdem haben sie Gesichter - entstellte Fratzen, nie gedacht für Nahaufnahmen wie diese. Kinzer allerdings rückt die kleinen Statisten in den Fokus, ordnet ihnen sogar fiktive Namen und Berufe zu. "Für mich ist das auch eine sozialkritische Arbeit", sagt er.

Opfer oder Täter? Sogar einen Paravent mit Löchern fürs Gesicht hat Pit Kinzer mitgebracht. So kann man in verschiedene Rollen schlüpfen. (Foto: Christian Endt)

Das Gleiche gilt für viele seiner surrealen Tableaus, in die Kinzer eben auch jene Gerngroß-Models immer wieder hineinschmuggelt. Sogar seine berühmte Venus, von Sandro Botticelli entliehen, steht normalerweise neben einer Modelleisenbahn - die Figur sei gedacht für einen winzigen FKK-Strand, erklärt Kinzer und lacht. Eine andere Collage kombiniert ganz ungeniert "Das Floß der Medusa" von Théodore Géricault mit "Die Freiheit führt das Volk" von Eugène Delacroix, wieder eine andere zeigt "Die Erschießung der Aufständischen" von Francisco de Goya mit einem Bild aus dem Familienalbum: Kinzers Vater als Marinesoldat. Dazu kommen stets schier unendlich viele andere Details. Figuren, Objekte, wellenförmige Wasserspiegelungen. Manches ist schwarz-weiß gehalten, anderes farbig, die Stile reichen von mittelalterlich bis modern. So bieten sich dem Betrachter wimmelnde, lustige Bilderrätsel - wären da nicht die vielen grausig-verstörenden Details. Tod, Blut und Knochen, Opfer wie Täter, Verbrecher neben Heiligen. Gesichte eben.

Die Neugier hat Ingo Lie zum kreativen Arbeiten mit Photoshop geführt

Fotografien sind auch das Ausgangsmaterial von Ingo Lie aus Hannover, auch er nutzt sie als Versatzstücke für großformatige Collagen. Seine Neugier habe ihn dazu verführt, mit Photoshop zu arbeiten, erzählt der Künstler. Dafür nutzt er Aufnahmen aus dem Internet, von befreundeten Fotografen oder aus der eigenen Kamera, mit der Lie oftmals auch Filmszenen abfotografiert. "Keine Blockbuster natürlich, sondern solche auf Arte oder 3 Sat." In Ebersberg sind aus dieser Serie drei Porträts zu sehen, Nahaufnahmen, die wirken wie Schnappschüsse von Menschen, die gerade ganz selbstvergessen ihren Gedanken nachhängen. Also auch hier wieder: Visionen.

Ein verregneter Wald, ein menschlicher Schatten, viel Symmetrie: Ingo Lies digitale Werke sind ziemlich rätselhaft. (Foto: Christian Endt)

Lies großformatige Bilder allerdings sind noch rätselhafter als jene von Pit Kinzer. Das liegt daran, dass die Zuordnung seiner Fotoschnipsel praktisch unmöglich ist - und Lie ihre "Geschichte" lieber für sich behalten möchte. "Ein Werk macht drei Phasen durch: Erst ist es bei mir, dann ganz bei sich, und am Ende im Auge des Betrachters. Das sollte man nicht vermischen." Auskunft geben würden aber die Titel, der "Liebestopf" zum Beispiel: Eine mystisch schimmernde Schale, im Hintergrund sieht man schemenhaft ein inniges Paar, drumherum orientalisch anmutende Ornamente. Auch ein Selbstporträt hat Lie nach Ebersberg mitgebracht: Splitterfasernackt steht er da, mit herausforderndem Blick, die Füße in grünlichem Wasser, im Hintergrund feurig-gelbe Wolken.

Menschen abbilden - darum geht es auch bei Daniela Kammerer. Allerdings ebenfalls nicht auf fotorealistische Weise. "Haut um's Hirn" nennt die Malerin aus Augsburg ihr Projekt, das sie in der Alten Brennerei vorstellt. Auf der ganzen Welt sei sie dafür unterwegs gewesen, um Menschen zu treffen und zu malen. In Kolbermoor genauso wie in Jerusalem oder Tel Aviv. "Dort habe ich mir jeweils ein Atelier eingerichtet und dann die Nachbarn zum Gespräch eingeladen, um ihre Lebensgeschichten zu hören." Die Essenz daraus hat Kammerer dann stets aus der Erinnerung aufs Papier gebracht, hat versucht, mittels Pinsel und Farbe vorzudringen ins Innere der Porträtierten, ihre Aura einzufangen. Rund 400 Köpfe, mehrere größere Gemälde, Plastiken und ein Wandgewebe sind so im Laufe der Zeit entstanden - "und ich kann mich auf Anhieb an jeden einzelnen Menschen erinnern".

Manche Menschen haben Daniela Kammerer so viel von ihren Verwandten erzählt, dass malerische Familienaufstellungen entstanden. (Foto: Christian Endt)

Meist sei das Erzählte sehr existenziell gewesen, bedrohlich oder traurig, sagt Kammerer. "Aber man muss das Grauen ansehen und durchgehen, um wieder ans Licht zu kommen." Und die Kunst könne dabei helfen. "Unser Aussehen ist zwar individuell, aber Gefühle, Wünsche und Ängste sind ja universell." Trotzdem kommen ihre mehr oder weniger abstrahierten Köpfe alle unterschiedlich daher, keiner gleicht dem anderen. Manche sind sehr wild gestaltet, andere eher brav, manche sind sehr bunt, andere setzen eher auf wenige Kontraste, manche zeigen viel Weißraum, andere verlaufende Farbspuren, manche sind verziert mit filigranen, rätselhaften Gebilden. Und das Erstaunliche ist: Die meisten Porträtierten hätten sich bei Ausstellungen wiedererkannt, so die Künstlerin. Klar, denn sie hat ja ihre Haut und zugleich ihr Hirn gemalt.

"Gesichte": Ausstellung von Daniela Kammerer, Pit Kinzer und Ingo Lie beim Kunstverein Ebersberg, Alte Brennerei im Klosterbauhof, Eröffnung an diesem Freitag, 6. Mai, um 19 Uhr. Am Freitag, 20. Mai, um 20 Uhr Open Music von "Zeitenspringer", am Sonntag, 29. Mai, 16 Uhr Finissage mit Künstlergespräch. Geöffnet freitags 18 bis 20 Uhr, samstags und sonntags 14 bis 18 Uhr.

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