Marc Sinan kann sehr, sehr gut Gitarre spielen. Aber das reicht ihm schon lange nicht mehr. Sinan will die Welt und das Leben in seiner ganzen Fülle kreativ erkunden, als Gitarrist, aber auch als Komponist, Denkender und Fühlender, als Utopist. Kein Wunder also, dass der gebürtige Ebersberger nun sogar das Schreiben für sich entdeckt hat.
Zur Verabredung in seinem Elternhaus mit sensationellem Ausblick in den Süden kommt der Wahlberliner leicht verspätet, zu viele Termine, selbst im Heimaturlaub. Wobei: Urlaub, das ist für Sinan, trotz sommerlichem Hut, vermutlich ein Fremdwort. So viele Bälle wollen in der Luft gehalten werden, da bleibt kaum Zeit für Müßiggang. "Ja, es ist irgendwie ein anaerobes Leben", sagt Sinan und lacht, während er kalte Getränke einschenkt. Unter anderem wegen "Peer Gynt" ist er gerade daheim, also für eine Bühnenmusik am Münchner Residenztheater.
"Das Erinnern ist in meinen Augen eine ganz wesentliche, notwendige Kulturtechnik"
"Gleißendes Licht" heißt Marc Sinans kürzlich bei Rowohlt veröffentlichter Roman, in dem er die türkische und armenische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts verarbeitet. Sich mit seinen Wurzeln zu beschäftigen, sich zu erinnern, auch wenn es schmerzhaft sein sollte, darin sieht Sinan eine Hauptaufgabe des Menschen. "Das Erinnern ist in meinen Augen eine ganz wesentliche, notwendige Kulturtechnik", sagt er. "Würden wir uns adäquat erinnern, gäbe es keinen Krieg in Europa." Und weil er diesen Anspruch vor allem auch an sich selbst stellt, ist die Handlung seines bemerkenswerten Debüts stark autobiografisch gefärbt, sie spielt viel am Schwarzen Meer und teils auch in Ebersberg, wo Sinan aufgewachsen ist.
Hierhin, in seine Heimat, kommt Sinan nun auch mit einem alle Grenzen zwischen Kulturen und Disziplinen einreißenden Projekt aus Musik und Kunst. Er selbst nennt es ein Festival - mit dem er schon in mehreren Städten zu Gast war und mit dem er die Welt nun auch nach Ebersberg holen will. "Verschiedenste Menschen sollen eine gute Zeit miteinander haben - ohne dabei oberflächlich zu sein. Darum geht es bei ,Pantopia'", erklärt er.
Marc Sinan (bürgerlicher Name: Baute), geboren 1976, ist Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters. Er besuchte das Pestalozzi-Gymnasium in München, Gitarre studierte er am Mozarteum in Salzburg sowie am New England Conservatory of Music in Boston. Bereits als Jugendlicher spielte er als Solist mit Orchestern wie dem Royal Philharmonic Orchestra oder dem Georgischen Kammerorchester, internationale Konzertreisen folgten. Er und seine Frau haben drei Töchter.
Inzwischen macht Marc Sinan Musik für ein postmigrantisches Zeitalter. Seine meist abendfüllenden Werke greifen aktuelle gesellschaftspolitische Fragen auf und waren bereits bei diversen Institutionen und Festivals zu Gast, veröffentlicht sind sie bei ECM-Records. Schon lange erprobt er auch neue Wege der Kollaboration. 2008 gründete er die Marc Sinan Company, ein freies, in Berlin ansässiges Ensemble, dessen interdisziplinäre, transmediale und transkulturelle Projekte mehrfach ausgezeichnet wurden. 2011 etwa erhielt Sinan den Sonderpreis der Deutschen Unesco-Kommission für seine Konzertinstallation "Hasretim".
In Marc Sinans Kompositionen und Projekten, die stets von seiner Familienbiografie beeinflusst sind, spielen die Themen Trauma, Wut, Vergeltung, Reue, Vergebung und Gerechtigkeit eine tragende Rolle. Der Holocaust, der armenische Genozid, aber auch aktuelle soziale Dystopien bilden das thematische Fundament seiner Kunst. Die Zeit schrieb: "In seiner Ästhetik verschafft Marc Sinan all jenem einen Raum, was in einer eurozentristisch geprägten Gesellschaft kaum gehört wird. Hier treten die Erfahrungen der weltweit Unterdrückten und Kriegsversehrten auf die Bühne, die Erzählungen von Überlebenden von Völkermorden und die Geschichten kolonisierter Völker, die Ängste und die Trauer, die Wut und die Forderungen der Marginalisierten".
Täter und Opfer: Davon handelt auch Sinans Romandebüt, "eine Familiengeschichte voller Glanz, Tragik und Gewalt". In der Tat geht es hier tief hinein in Schicksale und Herzen zwischen Sehnsucht und Hoffnung, Schuld und Schmerz, Rache und Vergebung. Sinan arbeitet dabei kühn mit Sprüngen zwischen Orten und Zeiten, zwischen Erinnerung und Traum. Seine Erzählweise ist oftmals poetisch-visionär, dann wieder eher derb, aber immer voller Kraft und Fantasie. Auch findet der Autor starke wiederkehrende Motive, etwa den anklagenden Gesang eines Wals oder ein versunkenes Klavier.
Ausgangspunkt ist die Biografie von Sinans Großmutter, die einst durch den Völkermord an den Armeniern zum Waisenkind wurde. Im Roman ist es der Berliner Komponist Kaan, der sich plötzlich mit dieser Vergangenheit seiner Familie konfrontiert sieht - und mit deren schwerwiegenden seelischen Folgen. "Die Grundkonstellation habe ich so wahrheitsgemäß wie möglich wiedergegeben", erklärt Sinan. Doch ansonsten habe er die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bewusst immer wieder verschleiert. "Mein Alter Ego, dieser Komponist, ist ja durchaus eine problematische Figur - das hat mir große Freiheiten verschafft", sagt er und grinst.
Ja, Kaan ist mitnichten ein Held, sondern arrogant, wehleidig und cholerisch. Sinan erspart ihm kaum eine Peinlichkeit, charakterisiert ihn als einen innerlich Getrieben. Bizarre Widersprüchlichkeiten seien das Symptom einer Verformung: So formuliert der Autor die - vermutlich als generell zu verstehende - Diagnose. Es geht um ein vererbtes Trauma, um die Fortschreibung des Unglücks von der Oma auf deren Tochter und sogar den Enkel - eine Erfahrung, die auch Sinan selbst machen musste. "Es war lange ein verdrängtes Phänomen, völlig unklar, wie das eingesickert ist bei mir, wahrscheinlich in homöopathischen Dosen."
Überall Blut: Gibt es überhaupt ein unschuldiges Leben?
Die Fortschreibung äußert sich im Roman auch in der Scham der Mutter, und in ihrer Angst vor dem Scheitern in Deutschland. "Unser Leben ist ein Kampf", so lautet ihre Parole dem Sohn gegenüber. Die Mutter übrigens heißt, wie im echten Leben, Nur - der Name bedeutet gleißendes Licht. Demgegenüber steht die Finsternis in den Herzen, denn die Folgen des Genozids belasten Täter wie Opfer, so die späte Erkenntnis im Buch. Es ist wie ein Bann, der gebrochen werden muss. Innere Heilung tut not, durch das Verarbeiten und durch Vergebung, durch Lieder, Geschichten oder Rituale. "Blutige Hände wäscht man in kaltem Wasser, nicht mit frischem Blut. Das lernen die Menschen nicht", schreibt Sinan.
Um Blut geht es nun auch im Klosterbauhof, wo kommende Woche zwei immersive, interaktive Klanginstallationen von Marc Sinan zu erleben sind. Die eine stellt die Unmöglichkeit der Unschuld zur Disposition: Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen für das perfekte Glück? Ein Streichquartett ertönt aus vier Lautsprechern, Beethovens Große Fuge op. 132, aufgeteilt auf die vier Stimmen. Der einzige Punkt, von dem aus man das Stück ideal hören kann, liegt im Zentrum zwischen den Lautsprechern. Wer dorthin will, muss durch einen "See aus Blut waten". Es haftet also symbolisch allen an, die die Schönheit der Beethoven-Fuge suchen und finden.
Im Alten Kino treffen Künstler aus Berlin, Mali und Ebersberg aufeinander
Die andere Installation, "Seven Spirits", fragt nach der Möglichkeit und dem Wunsch zu vergessen. Literarische Vorlage ist Lord Byrons "Manfred", der - ähnlich wie Goethes "Faust" - an seiner Unfähigkeit verzweifelt, die Welt zu durchdringen. In seiner Sehnsucht nach naiver Unschuld ruft er sieben Geister an, die ihn von der Last des Wissens befreien sollen. Im Klosterbauhof tauchen diese Geister auf, um die Menschen mit ihren Klängen zu verführen.
Seinen Höhepunkt aber findet diese Ausgabe von "Pantopia", ein Projekt in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen, am Dienstag, 3. Oktober, im Alten Kino. Dort werden unter dem Titel "Bamako di Baviera" Künstler aus Mali, Berlin und Ebersberg zusammentreffen. Der Abend verspricht eine unterhaltsame Mischung aus traditioneller und zeitgenössischer Musik: eine lebendige und freudvolle Begegnung zwischen Menschen sehr unterschiedlicher musikalischer und kultureller Herkunft. Und im Foyer könne man sogar Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen, kündigt Sinan geheimnisvoll an und lacht.
Die Musik wiederum werde "leise sein und laut, berührend, feierlich, lustig, kompliziert, hell, tief und dunkel". Man hoffe auf viele Menschen, "die einfach neugierig sind". Es musizieren das malische Djiguiya Orchestra, die Marc Sinan Company, der Ebersberger Gitarrist Jeremy Teigan und der aus Grafing stammende DJ, Maler und Journalist Jonathan Fischer, ein profunder Kenner der afroamerikanischen Kultur. Sebastian Reier alias Booty Carell, künstlerischer Leiter der Musiksparte der Kammerspiele und legendärer DJ, legt tanzbare Musik aus aller Welt auf.
Wie das alles zusammengeht? Der gemeinsame Nenner "pantopischer Musik" sei die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens, erklärt Sinan. "Sie ist im Kern nicht im Sinne einer Zerstreuung angelegt, sondern Ausdruck einer notwendigen, tiefen, emotionalen, intellektuellen, spirituellen, handwerklichen und humanistischen Verfeinerung." Klingt nach einem sehr hehren Ziel. Lassen wir uns überraschen!
"Pantopia" in Ebersberg: Klanginstallationen im Klosterbauhof, Vernissage in Anwesenheit des Komponisten am Montag, 2. Oktober, um 16 Uhr. Anschließend sind die Installationen bis Donnerstag, 5. Oktober, täglich von 12 bis 18 Uhr zu erleben. Festival im Alten Kino Ebersberg am Dienstag, 3. Oktober, Beginn ist um 20.30 Uhr, Einlass von 19.30 Uhr an. Tickets gibt es online, unter (08092) 255 92 05 oder in der Vorverkaufsstelle im Foyer des Alten Speichers.