Depressionen:"Ich wollte leben, aber nicht so"

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Karolina De Valerio (links) und Gudrun Lenz leiden an Depressionen - und helfen anderen Betroffenen. (Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Etwa jeder Vierte erkrankt Studien zufolge einmal in seinem Leben an einer Depression.
  • Doch nur zehn Prozent der Betroffenen werden richtig behandelt und finden adäquate Hilfe.
  • Ein Münchner Bündnis unterstützt seit zehn Jahren Betroffene und bildet Hausärzte fort.

Von Christina Hertel, München

Gudrun Lenz fährt an einem Abend im Februar auf der Autobahn von Franken nach München, als plötzlich ihr Herz zu rasen beginnt - nicht wie beim 100-Meter-Lauf oder wenn man verliebt ist. Es ist pure Angst. Sie bekommt keine Luft mehr, sie schwitzt. Zu Hause auf dem Sofa sieht sie, wie der Fernseher auf sie zufliegt, wie die Bilder an den Wänden wackeln. Lenz traut sich nicht aus der Wohnung, tagelang. 18 Jahre ist das her. Kurz zuvor hatte sie erfahren, dass ihre Mutter an einem Hirntumor sterben wird. Heute ist Lenz 52, eine Frau mit braunem lockigem Haar und rauchiger Stimme, die sagt, sie könne sich noch daran erinnern, wie sich Glück anfühlte - wenn die ersten Sonnenstrahlen im Frühling die Haut berühren, wenn man einen Urlaub plant, wenn man mit Freunden in einer Kneipe sitzt. Sie weiß noch, wie das alles war. Aber sie fühlt es nicht mehr.

Lenz hat eine chronische Depression, eine Schwermut, die nie ganz vorüber geht. Hinzu kamen fünf schwere Depressionen, fünf Mal Klinik, immer mehrere Monate lang. Zeiten, in denen sich Buchstaben in ihrem Kopf zu keinen Wörtern mehr zusammensetzen ließen. Tage, an denen sie so aggressiv war, dass sie vor dem Supermarktregal Menschen ohne Grund schubste. Schlaflose Nächte, einmal zehn am Stück. Zweimal versuchte sie, sich umzubringen. "Ich wollte leben, aber nicht so", sagt Lenz. Sie sitzt an einem weißen Tisch, auf einer weißen Bank, von der Decke hängen Lampen, die nach Industrieloft aussehen, es riecht nach Farbe.

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Hier in die Luisenstraße, einem Altbau mit altem Parkett und hohen Decken, ist vor ein paar Monaten das Münchner Bündnis gegen Depression eingezogen, ein Verein, der psychisch Erkrankten eine Lobby geben will, der nun zehn Jahre alt wird und in dem sich Gudrun Lenz als Ehrenamtliche engagiert. Sie spricht bei Festivals, Workshops, Veranstaltungen darüber, wie sie lernte, die Depression als ein Teil ihres Lebens zu akzeptieren und wo sich Hilfe finden lässt. Momentan, sagt Lenz, gehe es ihr besser: Vor ein paar Tagen buk sie die ersten Plätzchen, mit viel Butter statt Margarine - "wenn dann schon gescheit". Gerade denke sie sich: "Mein Leben ist gar nicht mal so schlecht."

Etwa ein Viertel der Menschen erkrankt Studien zufolge im Laufe des Lebens an einer Depression - Künstler wie Marilyn Monroe und Franz Kafka, auch Politiker wie Willy Brandt und Konrad Adenauer. Psychische Erkrankungen waren 2017 laut der Krankenkasse DAK in München erstmals der häufigste Grund für eine Krankschreibung. Jeder fünfte Fehltag geht darauf zurück. Doch Betroffene suchen oft spät oder gar keine Hilfe. Nur zehn Prozent der Erkrankten erhielten eine adäquate Behandlung, sagt Professor Martin Keck, Vorsitzender des Bündnisses und Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. "Stellen Sie sich vor, nur jede zehnte Herzklappe würde richtig operiert - was es da für einen Aufschrei geben würde."

Über Depressionen aber sprechen viele Betroffene nicht gerne. Dabei sei auch sie eine Krankheit, die tödlich enden könne: "Jede Stunde begeht jemand Suizid, weil er sein Leid nicht mehr erträgt." Mehr als bei Verkehrsunfällen, als durch Drogen und Gewalttaten sterben - selbst, wenn man alle drei Todesursachen zusammenrechnet. Und das obwohl laut Keck Studien zeigen: Hatte jemand Suizidgedanken und begibt sich in Behandlung, kann derjenige vier Wochen später nicht mehr nachvollziehen, warum er sterben wollte.

Wie Depressionen entstehen, ist immer noch ein Rätsel

Damit Depressionen möglichst früh erkannt werden, macht das Bündnis mit jährlich mehr als 100 Hausärzten Fortbildungen, schult Lehrer, Pfleger, Pfarrer, Polizisten. Und der Verein appelliert an die Politik. Denn selbst in München, wo die Versorgung laut Keck noch weit besser als im ländlichen Raum ist, müssen Betroffene zwischen acht und zwölf Wochen auf einen Therapieplatz warten. Außerdem, sagt der Arzt, wäre es wichtig, besser zu verstehen, wie eine Depression genau entsteht. Das sei bis heute ein Rätsel. Bei etwa einem Drittel sei ein Ereignis der Auslöser - ein Beziehungsende, ein Todesfall, ein Umzug. Doch auch Veranlagung und Kindheit können eine Rolle spielen.

Karolina De Valerio, 56, wuchs in einer Familie mit wenig Geld auf, dafür mit einem Vater, der später an einer schweren Depression erkrankte. In dieser Familie, sagt sie, sei sie immer die Brave, die mit dem Einser-Abi gewesen. Mit Anfang 30 aber brach der erste Schub einer psychischen Erkrankung aus. Sie lernte für ihre Doktorprüfung, gleichzeitig fing sie als Referendarin an. Schon seit Monaten konnte sie nicht richtig schlafen, fragte sich, ob sie, die Tochter eines italienischen Gastarbeiters, überhaupt würdig sei, Lehrerin zu werden. Nach einer Woche an der neuen Schule kletterte sie in der Aula auf ein Gerüst, irrte sich in den Türen, reagierte nicht, wenn sie jemand ansprach.

Es folgten ein Aufenthalt in einer Tagesklinik, später Psychotherapie. Inzwischen liegt der letzte Schub etwa 18 Jahre zurück. Wie es sich anfühlt, weiß sie aber noch genau. Mit dieser Erfahrung versucht sie, anderen zu helfen. Auf 450-Euro-Basis ist De Valerio bei dem Bündnis angestellt. Jeden Freitag berät sie Betroffene und Angehörige am Telefon, ist Ansprechpartnerin bei einem Stammtisch und leitet eine Schreibwerkstatt. Auch De Valerio hat für die Depression ein Bild: Sie ist ein Fels. Doch dieser beherrsche inzwischen nicht mehr ihr Leben.

Weitere Informationen gibt es auf www.muenchen-depression.de

© SZ vom 07.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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