Shoah:Yad Vashem ehrt Sulzemooser Arzt als "Gerechten unter den Völkern"

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An der Ehrenmauer im Garten der Gerechten in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wird bald auch der Name von Hans-Georg Früchte aus Sulzemoos stehen. (Foto: dpa Picture-Alliance / Daniel Karmann)

Hans-Georg Früchte wird der Ehrentitel von der Holocaust-Gedenkstätte posthum verliehen. Er verhalf etlichen russischen Kriegsgefangenen und Juden zur Flucht und rettete auch durch Operationen ihr Leben.

Von Helmut Zeller, Sulzemoos

Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem verleiht dem Arzt Hans-Georg Früchte aus Sulzemoos posthum den Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern". Es ist die höchste Auszeichnung für nichtjüdische Menschen, die während der Shoah uneigennützig und unter Lebensgefahr Juden gerettet haben. Sie sahen nicht wie die breite Masse gleichgültig oder feindselig der Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden zu oder machten gar gemeinsame Sache mit den Tätern. Sie profitierten wie viele andere auch nicht vom geraubten Eigentum der Opfer. Zum 1. Januar 2022 listet die israelische Gedenkstätte 28 217 Gerechte aus 51 Ländern auf - darunter 651 aus Deutschland. Hans-Georg Früchte, der im Jahr 2011 im Alter von 95 Jahren gestorben ist, hat als Militärarzt im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion das Leben von Kriegsgefangenen und Juden gerettet. Der Name des Retters wird auf einer Marmortafel an der Ehrenmauer im Garten der Gerechten in Yad Vashem eingraviert.

"Dr. Früchte hat mein Leben gerettet"

Hans-Georg Früchte, am 20. Februar 1915 in Göttingen geboren, hat in einer Welt des völligen moralischen Zusammenbruchs Mut und Menschlichkeit bewiesen. Als Arzt war er 1941 und 1942 im "Dulag 160" (Durchgangslager) für sowjetische Soldaten bei Chorol in der heutigen Ukraine eingesetzt. Er rettete etlichen Kriegsgefangenen und Juden das Leben, indem er ihnen zur Flucht verhalf. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gerieten bis 1945 weit mehr als fünf Millionen Rotarmisten in deutsche Kriegsgefangenschaft. 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene kamen dabei um, weil die deutsche Wehrmacht sie verhungern oder - wie an der ehemaligen SS-Schießstätte Hebertshausen - von der Lager-SS erschießen ließ. Mehr als 4000 Opfer wurden bei Hebertshausen brutal umgebracht. Ungefähr 80 000 jüdische Kriegsgefangene, Angehörige der Roten Armee, wurden ermordet. Im Dulag 160 wurden laut Überlebenden tagtäglich Gräueltaten verübt - vor allem an den jüdischen Gefangenen. Früchte aber half.

Protest gegen die NS-Vernichtungspolitik

Der polnische Jude Henryk Schechter, der nach einer Kesselschlacht in Kriegsgefangenschaft geraten war, erklärte nach Kriegsende den Alliierten: "Mir selbst verschaffte Dr. Früchte zur rechten Zeit falsche Papiere und die Gelegenheit zur Flucht. Damit ich nicht durch meine Beschneidung als Jude erkannt werde, hat mir Dr. Früchte in einer Operation die Beschneidungsnarbe so geändert, dass ich sie als Narbe nach einer Phimosenoperation (Operation bei einer Vorhautverengung, Anm. d. Red.) ausgeben konnte. Nur dadurch rettete ich später mein Leben." Anderen Zeugenaussagen zufolge nahm Früchte diesen Eingriff mehrmals vor, oder er gab vor der Lagerkommandantur die jüdischen Gefangenen als Muslime aus, um ihre Beschneidung zu erklären. Der Arzt verhalf Kriegsgefangenen auch zu falschen Papieren, um sie aus dem Lager zu retten, wie andere Überlebende bezeugten. Er protestierte im Lager offen gegen die NS-Vernichtungspolitik. Das blieb der Lagerkommandantur nicht verborgen, sie versetzte ihn schließlich zur kämpfenden Truppe an die Front.

Spruchkammer stuft ihn als Entlasteten ein

Henryk Schechters Aussage hat neben anderen Zeugen, darunter auch ein jüdischer Arzt aus Kiew, die für Hans-Georg Früchte sprachen, letztlich dazu geführt, dass er 1947 von der Spruchkammer Dachau als Entlasteter eingestuft wurde. Der Allgemeinarzt, der sich 1945 in Sulzemoos niederließ und eine Praxis gründete, hatte das Spruchkammerverfahren selbst beantragt. Zu dem Verfahren kam es auch, weil Früchte von November 1934 bis zu seinem Austritt im August 1939 Mitglied der Sportgemeinschaft der Allgemeinen SS war. Früchte hatte diese Entscheidung damit begründet, dass er unbedingt Medizin studieren wollte und dazu staatliche finanzielle Hilfe brauchte, was ihm zunächst beides verwehrt worden war.

Eigentlich seit 2013 schon bekannt

Die Buchautorin und Kulturwissenschaftlerin Annegret Braun aus Sulzemoos arbeitet als Projektleiterin der Geschichtswerkstatt in Dachau. Sie hat als Erste Früchtes Geschichte erforscht und aufgeschrieben - in einem Beitrag für die mit dem früheren Kreis- und Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler herausgegebene Buchreihe "Dachauer Diskurse". Das war im Jahr 2013. Bürgermeister Johannes Kneidl (CSU) bezeichnet die Auszeichnung Hans-Georg Früchtes als ein "besonders bedeutsames Ereignis" in der Geschichte von Sulzemoos. Er, so Kneidl, verspüre tiefen Respekt für den Mut und die Menschlichkeit, die Früchte unter Lebensgefahr gezeigt habe. Landrat Stefan Löwl (CSU) sprach in einer Pressemitteilung von einem "bewegenden Moment". Hans-Georg Früchte habe ein Zeichen für unsere gesamte Gesellschaft gesetzt. Der Termin für die Übergabe der Medaille und Ehrenurkunde in der israelischen Botschaft in Berlin steht noch nicht fest.

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