Jazz in Dachau:Rund wie ein eckiges Rad

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Das Quartett Up and Out mit Elisabeth Harnik (Klavier), Harri Sjöström (Saxophon), Tony Buck (Schlagzeug) und John Edwards (Bass) bezieht sogar die Küchenklänge der Dachauer Kulturschranne in sein Konzert vom Jazz e.V. mit ein. (Foto: Toni Heigl)

Das internationale Jazz-Quartett "Up and Out" experimentiert auf der Bühne der Kulturschranne mit Klängen. Über die Kreation eines kosmischen Chaos und eine Feier der Unvollkommenheit.

Von Martin Wollenhaupt, Dachau

Ein schriller Schrei. Wo gerade noch wohliges Gemurmel bei gesittetem Weingenuss die Dachauer Kulturschranne erfüllte, in der alles Kantige, Anstößige, Dissonante ausgemerzt wurde, wo selbst das Holz der Tische auf das warme Licht abgestimmt ist und das warme Licht auf die von der Decke hängenden Grünpflanzen, kreischt plötzlich das Saxofon.

Es ist, als würde die Musik sich wehren, gegen den ästhetischen Perfektionismus dieses Ortes. Das Schlagzeug fährt an, rund wie ein eckiges Rad, bedrohlich dröhnt der Bass. Und das Klavier? Zeigt erstmal, welche Tasten es hat, am besten gleich alle auf einmal. Apokalyptisches Chaos, wie ein kosmisches Urquietschen in blutleerem Universum, ein sinnloses Kräftemessen der Elemente, in Ewigkeit? Aber, was war das? Als der Nihilismus schon zu wuchern beginnt, widerfährt dem Quartett ein Rhythmus.

Jazzliebhaber dürfen zuhören, wie die Kunst sich selbst sucht

Herrlich avantgardistischer Jazz, den der Dachauer Jazz e.V. bietet, provokant und energiegeladen. Zum Jahresauftakt darf das Quartett "Up and Out" in der Kulturschranne auftreten. Zusammen gespielt haben die Vier in dieser Konstellation noch nie. Vorhang auf für: den finnischen Saxofonisten Harri Sjöstrom, die Österreicherin Elisabeth Harnik am Klavier, den Australier Tony Buck am Schlagzeug und John Edwards aus England am Kontrabass. Proben oder Absprachen? Gibt es nicht. Ihre Improvisation ist experimentell, wie öffentliches Denken mit offenem Ausgang, ein Aufbruch in einen nicht determinierten Raum. Die Jazzliebhaber dürfen zuhören, wie die Kunst sich selbst sucht.

Dann ist das kosmische Chaos vorerst gebändigt. Die Instrumente hören sich jetzt gegenseitig zu, treten in einen Dialog, erst zaghaft, dann immer entschlossener. Die Klaviertasten finden eine klare Miniatur, der Bass ist einverstanden, er summt mit. Gedanken übertreten die Schwelle zum Bewusstsein. Merkwürdig luzide sind sie, so ganz unbearbeitet von sozial-umgänglicheren Formen des Fühlens, denn sie kommen von ganz unten.

Ein Mückenschwarm aus Eindrücken, der zuweilen klingt wie ein Mayröcker-Text sich liest

Wenn man die Musik zum ersten Mal hört, kann man sie kaum glauben. War da nicht... ein empörter Frosch? Lauert da nicht ein Leopard, fliegt ein Ufo, säuselt ein Kind? Ein Fauchen, Klappern, Jaulen? Das Quartett gerät in einen skurrilen Wirbel aus Klangräumen, ein Mückenschwarm aus Eindrücken, der zuweilen klingt wie ein Friederike-Mayröcker-Text sich liest: Gerade, wenn man die Spur eines Gedankens aufgenommen hat, verflüchtigt sie sich unter den Füßen. Freier Fall. Doch etwas Wesentliches unterscheidet die Musik von Literatur: Während sich Worte bereits auf gespurten Denkbahnen bewegen, verirrt sich die Musik auch mal in unbekanntes Terrain.

Das Saxofon räuspert sich. Die anderen drei lassen es nicht zu Wort kommen. Langsam wird es zickig, verschränkt die Arme, "lasst ihr mich mal ausreden?" "Halts Maul!", donnert das Schlagzeug. "He, was soll der Krach?", der Bass. Ein Kampf enttobt, laut und unübersichtlich. Harnik am Klavier schlägt mit geballten Fäusten auf die Tasten ein, langt in ihren Flügel, reißt an ihren Saiten, wirft leere Teelichter und andere Gegenstände in das Instrument hinein, um Töne zu erzeugen. Sjöström bäumt sich auf, ein Todeskampf mit dem Saxofon, Edwards, hochroter Kopf, kurz vor der Explosion, rupft und zerrt an den Saiten seines Kontrabasses, Buck prügelt das Trommelfell seines Schlagzeugs. Sie fallen übereinander her, verzerrte Gesichter, tummeln sich zu Bergen, immer schneller, wie im Zeitraffer durch die Kakophonie der Weltgeschichte. Ein Rasen, dionysisch, orgiastisch, im unendlichen Sog einer Repetition, Ekstase. "Pöff", ein letztes Dampfwölkchen, und der Wahn verpufft im Nichts. Up and out. Alles nur ein Fiebertraum?

Was das Publikum an diesem Abend miterleben darf, ist eine Utopie

"Erst mal eine cup of tea", sagt Edwards, die Stirn schweißverklebt, und führt sich eine Tasse zum Mund, "ganz zivilisiert". Was das Publikum an diesem Abend miterleben darf, ist eine Utopie. Jeder Ton ist gleichwertig. Der Küche der Kulturschranne entfährt ein "Plöpp!". Prompt antwortet das Quartett: Plöpp! Oh, herrliche Anarchie der Klänge! Die Küche musiziert mit, ihr Flaschenöffnen und Geschirrklappern ist dem Instrumentenklang ebenbürtig. Große Kunst braucht Vollendung? Unsinn! Nieder mit der Fiktion der Reife, nieder mit dem gelehrten, professoralen Ton. Bätsch! Was diese Musik befreiend macht, ist ihre Feier des Unvollkommenen. Anstatt sich der Form zu unterwerfen, spielt sie mit ihr.

Warmes Licht erfüllt wieder den Raum, das Harmonische traut sich aus seiner Deckung, wenngleich noch etwas verdutzt von seiner Konfrontationstherapie. Das Klavier muss jetzt erst einmal auf Kur. Ganz im Gegensatz zu den Jazzliebhabern: Assoziationstrunken leeren sie ihre Weingläser und schwärmen aus in die Nacht.

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