Theatersommer Bergkirchen:Zurück zum Azzurro-Leben

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Tobias Zeitz als Gigi Fremdenführer in der Bühnenadaption des Kinderbuchklassikers "Momo" in der Inszenierung von Herbert Müller. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Das Hoftheater Bergkirchen macht aus Michael Endes Kinderbuchklassiker "Momo" ein spektakuläres Gesamtkunstwerk mit Musik und Tanz. Neu mit dabei ist Bibigirl, die Automatenpuppe.

Von Dorothea Friedrich, Bergkirchen

Selbstoptimierer oder Karrieresüchtige wissen ein trauriges Lied davon zu singen: Smartphone, Instagram und Co verschlingen viel zu viel Zeit. Das Problem ist nicht neu. Bereits 1973 hat Autor Michael Ende mit seinem Bestseller "Momo" eine Reflexion über unseren Umgang mit der (Lebens)-Zeit geschrieben, verpackt in ein spannendes Märchen. Das ist heute aktueller denn je, wie das Hoftheater Bergkirchen in der Inszenierung und Bearbeitung von Herbert Müller zeigt. Am vergangenen Freitag war umjubelte Premiere beim Theatersommer Bergkirchen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Regisseur Herbert Müller, der bereits 1981 die Uraufführung des Theaterstücks von Vito Huber auf die Bühne gebracht hat, und dem gesamten Ensemble auf und hinter der Bühne ist ein echtes Gesamtkunstwerk gelungen: Sprache, Musik (ganz große Oper von Max I. Milian) und Tanz (ideenreich choreografiert von Annalena Lipp), Bühnenbild und Kostüme (märchenhaft umgesetzt von Ulrike Beckers), Sound und Technik (echte Highlights von Max. I. Milian, Stefan und Ingo Thomas) sind so ausgezeichnet aufeinander abgestimmt, dass sie eine untrennbare Einheit bilden - sei es in den fröhlich-leichtfüßig daherkommenden Parts dieses intelligenten Spektakels für Kinder und Erwachsene, sei es in den furchteinflößenden Szenen, in denen die gruseligen, nimmersatten "grauen Menschen" nur zu gerne jedes Leben aufsaugen würden.

Diese Momo hätte man gerne zur Freundin

Eines Tages taucht Momo mitten in einer temperamentvollen italienischen Runde auf, die in einem verfallenen Amphitheater lautstark ihre großen und kleinen Probleme zu lösen versucht, während Fremdenführer Gigi (umwerfend: Tobias Zeitz) mal eben den Italo-Dauerbrenner "Azurro" so gnadenlos gut ins Publikum schmettert, dass Adriano Celentano vor Neid erblassen würde. Zugewandt, mit offenem Herzen und strahlenden Augen, wird Momo schnell Teil der Gemeinschaft.

Sarah Giebel spielt dieses Mädchen in seiner abgerissenen Klamottage so fein, so sorglos-unbekümmert, dass man sie gerne zur Freundin hätte. Für den Hallodri Gigi, für den Paragrafenreiter und Friseur Fusi (Ansgar Wilk), für den gewieften Wirt Nino und seine Frau Liliana (Julian Brodacz und Lisa Bales), für den friedfertigen, aber gelegentlich ausrastenden Maurer Nicola (Jürgen Füser), für die mehr als neugierige Küsterin Francesca (Annette Thomas) und für den philosophierenden Straßenkehrer Beppo (Herbert Müller) wird Momo zur unverzichtbaren Freundin und Ratgeberin.

Sarah Giebel spielt das Mädchen Momo mit hinreißender Unbekümmertheit. (Foto: Niels P. Jørgensen)
Für ein Schwätzchen mit Beppo Straßenkehrer (Herbert Müller) ist immer Zeit. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Bis Grau 1 der Idylle ein Ende setzt. Er ist ein namenloser, großgewachsener Kotzbrocken in feinem Zwirn (Stephan Roth) mit dicker Zigarre und verführerisch schnurrender Stimme. Er gibt sich als Vertreter der Zeitsparkasse aus, ruft Effizienz und Optimierung als neues Credo aus und ergaunert die gesparte Zeit der ahnungslosen Leute. Eine üble Betrugsmasche, die auch fünfzig Jahre nach Erscheinen von "Momo" im ganz großen Stil funktioniert, wie Steuer- und Wirtschaftsskandale immer wieder zeigen.

Aus dem verbindlichen Friseur Fusi wird der Chef der grauen Menschen, eine Figur des Schreckens mit stahlharter Stimme, böse funkelndem Blick und einem unersättlichem Bedürfnis nach gestohlener Zeit. Diese brauchen die Grauen nämlich, um überleben zu können. Luftikus Gigi mutiert zum unfassbar gekonnt rappenden Instagram-Star. Kneipenbesitzer Nino hat nun eine angesagte Bar und wie alle "keine Zeit, keine Zeit". Auch das kommt einem ziemlich bekannt vor, seit es statt ausgiebiger Ratschereien nur noch Emojis per Smartphone vom einstmals besten Freund gibt.

Mit dabei: Bibigirl, die Automatenpuppe

Die Grauen kreisen Momo immer enger ein, ist sie doch die einzige Widerständlerin. Nicht einmal Bibigirl, eine Automatenpuppe im total verrückten Outfit (genial: Lisa Bales), kann sie umstimmen. Denn dieses Maschinending, "kann man nicht liebhaben", stellt Momo sehr schnell fest - und steht damit endgültig auf der Abschussliste der Grauen. Hilfe naht von der Schildkröte Kassiopeia (eine herrlich überdrehte, vom Kopf bis zu den Füßen knallrote und pausenlos Gurken vor sich hin mampfende Annalena Lipp). Sie führt Momo ins Nirgendwo-Haus und zu Meister Hora, dem Hüter der Zeit - in der Hoftheater-Adaption eine Meisterin und Hüterin, die Jessica Dauser quasi "über den Dingen schwebend" spielt.

Wie das ungleiche Trio unter Einsatz der magischen Stundenblume die Menschen aus den Fängen der Grauen befreit und die Bösewichte im Nichts verschwinden, wie der eben noch völlig durchgeknallte Gigi wieder zurück zum Azzurro-Leben findet, wie endlich wieder Zeit für- und miteinander da ist und wie sich die deprimierende Hochhaus-Trümmerlandschaft, begleitet von sphärischer Musik ins italienische Idyll zurückverwandelt: Das sollte man sich ansehen und anhören. Und sich vielleicht ein paar Gedanken über den eigenen Umgang mit der (Lebens-)Zeit machen.

Weitere Vorstellungen: Freitag/Samstag, 21. und 22. Juli, Donnerstag bis Samstag, 27. bis 29. Juli, jeweils um 20 Uhr.

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